Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
»Sie hat meine Nummer – das weiß ich sicher.«
Jeremiah blickte eine Weile starr auf das blutgetränkte Papier in seiner Hand, dann sah er mit rasch zwinkernden Augen zu Renie auf.
Alle Welt weint heute, dachte sie. Was ist bloß los?
»Doktor Susan ist im Krankenhaus«, stieß er heftig und verzweifelt hervor. »Es geht ihr sehr schlecht… sehr schlecht.«
»O mein Gott.« Renie riß im Reflex noch ein paar Blätter von der Küchenrolle ab und reichte sie ihm. »Was ist passiert?«
»Ein paar Männer haben sie zusammengeschlagen. Sie sind ins Haus eingebrochen.« Dako hielt das Papier einfach in der Hand. Ein Rinnsal Blut floß auf seine Augenbraue. »Sie will dich sehen.« Er schloß die Augen. »Ich denke … ich denke, sie stirbt vielleicht.«
> Im Vollgefühl seiner erwiesenen Wichtigkeit als Beschützer des Haushalts bestand Long Joseph zunächst darauf, sie zu begleiten. Erst als Renie ihm klarmachte, daß er womöglich etliche Stunden im Wartezimmer des Krankenhauses würde verbringen müssen, entschloß er sich, als Bollwerk gegen andere, weniger harmlose Schleicher in der Unterkunft zu bleiben.
Jeremiah fuhr zügig durch die nahezu leeren Straßen. »Ich weiß nicht, wie die Schweine reingekommen sind. Ich war außer Haus, weil es der Abend war, wo ich immer meine Mutter besuchen fahre. Sie ist schon sehr alt, und sie hat es gern, wenn ich komme und ein paar Sachen für sie erledige.« Das Papierhandtuch mit einem Rorschachmuster aus antrocknendem Blut leuchtete an seiner dunklen Stirn. »Ich weiß nicht, wie die Schweine reingekommen sind«, wiederholte er. Es war offensichtlich, daß er sich das trotz seiner Abwesenheit persönlich zum Vorwurf machte. Unter solchen Umständen, das wußte Renie, waren die Haushälter oder andere Angestellte gewöhnlich die ersten Verdächtigen, aber an Dakos Betroffenheit war kaum zu zweifeln.
»War es ein Raubüberfall?«
»Sie haben nicht viel mitgenommen – ein paar Juwelen. Aber sie haben Doktor Susan unten in ihrem Labor gefunden, also müssen sie von dem Aufzug gewußt haben. Ich denke, sie wollten sie zwingen zu verraten, wo sie das Geld hatte. Sie haben alles kaputt gemacht – alles!« Er schluchzte, dann preßte er die Lippen fest zusammen und schwieg eine Weile.
»Sie haben Sachen in ihrem Labor zerstört?«
Seine Miene verfinsterte sich. »Kurz und klein geschlagen haben sie alles. Wie wilde Tiere. Dabei haben wir nie Geld im Haus! Wenn sie stehlen wollten, warum haben sie dann nicht die Geräte gestohlen? Die sind mehr wert als die paar Rands, die wir da haben, um mal einem Lieferanten ein Trinkgeld zu geben.«
»Und woher weißt du, daß Susan mich sehen will?«
»Sie hat es mir gesagt, als wir auf den Krankenwagen gewartet haben. Sie konnte nicht viel sprechen.« Wieder schüttelte ihn ein Schluchzen. »Sie war doch bloß eine alte Frau! Wer kann sowas machen?«
Renie schüttelte den Kopf. »Furchtbare Menschen.« Sie konnte nicht weinen. Die vorbeigleitenden Straßenlaternen hatten sie in eine Art Traumzustand gelullt, als ob sie ein Geist wäre, der in ihrem Körper herumspukte. Was war bloß los? Warum stießen den Menschen um sie herum laufend so gräßliche Dinge zu? »Furchtbare, furchtbare Menschen«, sagte sie.
Schlafend sah Susan Van Bleeck aus wie ein Wesen von einem anderen Stern. Sie war mit Sensoren und Schläuchen behängt, und nur der mumienartige Verband schien ihren verfärbten und zerschlagenen Körper in einer gewissen menschlichen Form zu halten. Ihr Atem kam und ging pfeifend durch ihre leicht geöffneten Lippen. Jeremiah brach abermals in Tränen aus und sackte neben ihrem Bett auf den Boden, die Hände im Genick verschränkt, wie um zu verhindern, daß der Überdruck des Kummers ihm den Kopf wegsprengte.
Auch wenn es entsetzlich war, ihre Freundin und Professorin so zugerichtet zu sehen, hielt der Zustand kalter Distanziertheit bei Renie weiter an. Das war heute das zweite Mal – nein, gestern war es gewesen –, daß sie in einem Krankenhaus vor dem stummen Körper eines geliebten Menschen stand. Wenigstens hatte die Universitätsklinik Westville keine Bukavu-Quarantäne.
Ein junger schwarzer Arzt in einem fleckigen Kittel schaute herein, eine Brille mit geklebtem Steg auf der Nase. »Sie braucht Ruhe«, sagte er stirnrunzelnd. »Gehirnerschütterung, viele Frakturen.« Er deutete diffus auf die Station voll schlafender Patienten. »Und es ist keine Besuchszeit.«
»Sie hat nach mir verlangt«,
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