Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
ein.
Ein Kribbeln, das durch seinen ganzen Körper zu fahren schien, riß ihn aus dem Schlaf. Er zappelte in seiner improvisierten Halterung, um das stechende Viehzeug zu vertreiben, von dem er sich angegriffen wähnte, als der violette Himmel mit einem Schlag grellgrün aufflammte und das Wasser einen stumpf kupfernen Orangeton annahm. Statische Ladung knisterte in der Luft. Die eine Hälfte des Flußlaufs ging urplötzlich in die Höhe, als ob ein riesiges Ungetüm vom Grund aufgestiegen wäre, aber die andere Hälfte nicht, auch nicht, als der Aufwurf schon die dritte und vierte Sekunde anhielt. Zwischen den beiden Hälften gab es sogar eine feste und scharfe Kante, als ob das Wasser hart wie Stein wäre. Gleich darauf schoß das Kribbeln noch brennender durch Paul, und er schrie auf. Gally, der eben erst entsetzt aufwachte, schrie ebenfalls. Der Himmel zuckte abermals und leuchtete einen kurzen Moment gespenstisch weiß, dann hörte das schmerzhafte Kribbeln auf, der Himmel kehrte mit einem Flackern in seinen Normalzustand zurück, und das Wasser war wieder ein geschlossenes Ganzes, das mit keiner Welle, nicht einmal mit einer Kräuselung die geschehene Veränderung verriet.
Paul stierte mit aufgerissenem Mund in das dämmerdunkle Nichts. Er hatte zwar Erinnerungsschwierigkeiten, aber er war sich ganz sicher, daß er noch nie zuvor ein solches Verhalten bei einem Gewässer gesehen hatte. Dabei wurde ihm klar, daß es keineswegs nur der Fluß gewesen war. Die ganze Welt hatte allem Anschein nach einen Augenblick lang gezuckt und sich verzerrt, als wäre sie auf ein Blatt Papier gemalt und dann dieses Papier heftig zerknüllt worden.
»Was … was war das?« Gally rang nach Atem. »Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht. Ich … ich glaube …«
Noch während er krampfhaft nach einer Erklärung suchte, riß das ganze Stück Schnitzwerk ab, an dem er und der Junge hingen, und sie trieben auf einmal im offenen Wasser. Paul grapschte nach Gally, und als er ihn sicher im Griff hatte, half er ihm zu dem Zierholz hin, das wenige Meter weiter langsam im Wasser kreiste. Der abgebrochene Teil war länger als Paul und tragfähig genug, daß sie sich beide daran festhalten konnten, und das war ein Glück, denn unbekümmert um seine verlorengegangenen blinden Passagiere zog das Langboot weiter seine Bahn. Es dauerte nicht lange, und es war im Dunst und der frühmorgendlichen Dunkelheit verschwunden. Sie waren wieder allein.
»Schhh«, suchte Paul Gally zu beruhigen, der zwischen wasserspuckenden Hustenausbrüchen weinte. Der Junge blickte ihn mit geröteten Augen an. »Wir kommen schon durch. Sieh mal, wir lassen uns einfach treiben.«
»Es ist nicht deswegen. Ich … ich hab geträumt. Ich hab geträumt, Bay wär unter Wasser, unten am Grund auf dem Sand. Er war einsam, weißt du, und er wollte, daß ich runterkomme und mit ihm spiele.«
Mit blinzelnden Augen versuchte Paul das Ufer zu erspähen: Wenn es nahe genug war, konnten sie trotz des ruhigen, aber stetigen Ziehens der Strömung hinschwimmen. Aber falls das Land in erreichbarer Nähe war, dann war es in Nebel und Dämmerlicht gehüllt. »Mit wem?« fragte er zerstreut.
»Mit Bay. Ich hab von Bay geträumt.«
»Und wer ist das?«
Gally starrte ihn mit großen Augen an. »Mein Bruder. Du hast ihn doch kennengelernt. Weißt du nicht mehr?«
Paul wußte nicht, was er entgegnen sollte.
Sie hingen schon eine ganze Weile an dem abgebrochenen Holzstück. Der Himmel war heller geworden, aber Paul wurde immer müder und fürchtete, das Zierteil und Gally nicht mehr viel länger festhalten zu können. Er versuchte zu entscheiden, in welche Richtung sie um ihr Leben schwimmen sollten, als ein langer Schatten durch den Nebel auf sie zuglitt.
Es war ein Boot, kein großes wie das Prunkboot, sondern ein bescheidener Fischernachen. Ein einzelner Paddler stand im Bug. Als das Boot näherkam, erkannte Paul, daß sein Insasse eines der Wesen mit den langen Schnauzen war.
Das Wesen machte mit seinem einzelnen langen Paddel ein paar Schläge in die Gegenrichtung, so daß das Boot wenige Meter vor ihnen zum Stillstand kam. Es hockte sich im Bug hin, legte den Kopf auf die Seite und betrachtete sie. Krumme Reißzähne ragten aus der langen Schnauze, aber in seinen gelben Augen glomm unleugbar der Funke der Intelligenz. Im Sonnenlicht erkannte Paul erstmals, daß die glänzende Haut leicht grünlich war. Nach einer Weile stand es auf und erhob das Paddel, wie um sie zu
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