Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
sieht ganz merkwürdig aus – tut dir der Kopf weh? Nun, ein Grund mehr, daß du und der Junge kommt und meine Gäste seid.«
> Um die Mittagszeit brannte die Sonne stark. Zu dem Zeitpunkt war Kluru vielleicht der einzige erwachsene Bewohner des Nimbordorfes, der nicht vor ihren Strahlen im Haus Schutz suchte. Er hielt sich so weit wie möglich im Schatten auf, unter den Dachüberhang des Nachbarhauses gekauert, während sein tellarischer Gast sich mitten auf dem Fischhautdach in der Sonne rekelte, um sich nach der langen Zeit im Wasser die eisige Kälte aus den Knochen zu vertreiben. Unten spielte Gally frisch gestärkt von der Suppe mit Fladenbrot, die es zu Mittag gegeben hatte, mit den Dorfkindern ausgelassen Fangen.
»Auch in der Beziehung bist du verrückt«, klagte Kluru. »Können wir nicht hineingehen? Noch mehr von dieser bitteren Sonne, und ich werde genauso gestört sein wie du.«
»Natürlich.« Paul stand auf und folgte seinem Gastgeber die Leiter hinunter in die Hütte. »Ich habe nicht… ich war ganz in Gedanken.« Er setzte sich in eine Ecke des unmöblierten Zimmers. »Kann man denn gar nichts machen? Du hast gesagt, es wären andere von ihrem Volk hier. Werden die nichts unternehmen?«
»Pfoch.« Kluru schüttelte entrüstet seinen langmäuligen Kopf. »Denkst du immer noch an sie? Ist es denn nicht schon Lästerung genug, daß du erblickt hast, was du nicht sehen durftest? Was die Vonarier betrifft, die halten sich an ihren alten Vertrag. Mindestens dreihundert Sommerprinzessinnen sind schon vor ihr geopfert worden – warum sollten sie sich sträuben, nur weil es eine mehr wird?«
»Aber sie ist…« Paul rieb sich das Gesicht, als ob er mit Drücken die quälenden Gedanken aus seinem Kopf vertreiben könnte. »Ich kenne sie. Ich kenne sie, verflucht nochmal! Aber ich weiß nicht, woher.«
»Du kennst sie nicht!« Der Nimbor blieb fest. »Nur die Taltoren dürfen sie sehen. Ausweltler und kleine Leute wie ich – niemals.«
»Jedenfalls habe ich sie gestern nacht gesehen, auch wenn es nur zufällig war. Vielleicht habe ich sie anderswo schon mal gesehen und kann mich bloß nicht mehr erinnern, wo.« Er blickte kurz auf, als Gally draußen kreischte, aber es war ein Schrei der Freude gewesen, nicht der Furcht. Der Junge schien sich mit seinen neuen Nimborfreunden ganz wohl zu fühlen; wenn er noch um die ermordeten Austernhauskinder trauerte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Mein Gedächtnis – etwas stimmt nicht damit, aber nicht erst seit kurzem«, sagte Paul plötzlich. »Ich glaube, ich habe schon länger Probleme damit.«
»Vielleicht hast du der Sommerprinzessin wirklich schon einmal nachspioniert, und die Götter haben dich bestraft. Oder vielleicht hast du eine Krankheit, oder ein Fluch liegt auf dir. Ich kenne die Tellarier nicht gut genug, um das zu sagen.« Kluru runzelte die Stirn. »Du solltest mit einem von deinen Leuten reden.«
Paul wandte sich um. »Kennst du welche?«
»Ob ich Freunde unter den Tellariern habe? Nein.« Klurus knubblige Gelenke knackten, als er aufstand. »Aber in dieser Festzeit werden zweifellos Ausweltler auf dem Markt in Tuktubim sein. Wenn du willst, bringe ich dich hin. Aber zuerst muß ich Schuhe für dich besorgen – für den Jungen auch. Andernfalls werden eure Füße bald einem angebrannten Essen gleichen.«
»Ich würde gern auf den Markt gehen und mir Tuktubim anschauen. Hast du nicht gesagt, daß dort auch die Sommerprinzessin festgehalten wird?«
Kluru senkte den Kopf und knurrte. Einen Augenblick lang sah er wirklich wie ein Hund aus. »O Götter! Nimmt denn dein Wahnsinn gar kein Ende? Vergiß sie!«
Paul blickte finster. »Das kann ich nicht. Aber ich werde versuchen, nicht mehr vor dir von ihr zu sprechen.«
»Oder hinter mir. Oder links von mir oder rechts von mir. Ruf den Jungen, Tellarmann. Ich habe keine Familie, deshalb hindert uns nichts daran, sofort zu gehen. Ha! Frei alles tun und lassen zu können, ist einer der kleinen Vorteile, die man hat, wenn man nestlos ist.« Er sagte es mit einer gewissen Traurigkeit, und Paul schämte sich ein wenig bei dem Gedanken, daß sie trotz Klurus Herzlichkeit und Gastlichkeit nicht viel Interesse an seinem Leben gezeigt hatten. Als Angehöriger der marsianischen Unterklasse, vom Taltorenadel wie ein Leibeigener gehalten, konnte Kluru kein allzu glückliches Leben haben.
»Paul, guck mal!« rief ein fröhlich planschender Gally von draußen. »Raurau hat mich ins
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