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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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flaches Schiff, von Fackeln erleuchtet, an der Insel vorbeigleiten. An der Reling standen Gestalten, aber Paul konnte sie durch die Bäume hindurch nicht genauer erkennen. Er führte Gally aus dem steinernen Unterschlupf in den Hain hinaus, der ihm als Versteck geeigneter erschien.
    Hinter einen der silberblättrigen Bäume geduckt beobachteten sie, wie die Spitze des Schiffes am Pyramidenende der Insel zum Stillstand kam. Eine gedrungene, aber behende Gestalt sprang von Bord und machte das Schiff fest, bevor sie sich mit erhobenem Kopf hierhin und dorthin wandte, als schnupperte sie prüfend den Wind. Einen Moment konnte Paul sie im Flammenschein deutlich sehen, und was er sah, ließ ihn erschauern. Die glänzende Haut und das langgezogene Gesicht des Wesens waren eher tier- als menschenähnlich.
    Andere Gestalten mit funkelnden Klingen in den Händen stiegen aus dem Schiff auf den Sockel der Pyramide. Paul machte sich das Durcheinander zunutze, um Gally auf den untersten Ast des Baumes zu heben, und kletterte dann dem Jungen ins höhere Geäst hinterher, wo sie nicht so leicht zu erspähen waren.
    Aus dieser besseren Warte sah er, daß das Schiff ein Langboot war, ein Drittel so lang wie die ganze Insel, mit schöner Zierschnitzerei und Bemalung, einem schwungvollen, fächerförmigen Heck, einer von Säulen getragenen Kabine und Fackeln rundherum an der Reling. Zu seiner Erleichterung sahen nicht alle Insassen so tierisch aus wie der erste. Der mit der langen Schnauze und seine Kameraden schienen die Mannschaft zu sein; die anderen, die jetzt auf die Insel traten, waren zwar sehr groß, wirkten aber ansonsten menschlich. Sie trugen Rüstungen und in den Händen lange Piken oder Krummsäbel.
    Nach einem kurzen Blick in die Runde – für eine so große bewaffnete Schar auf einer so kleinen Insel verhielten sie sich ungewöhnlich vorsichtig, fand er – drehten sich die Ausgestiegenen um und gaben ihren Gefährten an Bord ein Zeichen. Paul beugte sich vor, um durch die Blätter besser sehen zu können. Als die Person in der Kabine heraustrat, wäre er beinahe vom Ast gefallen.
    Sie war fast so hochgewachsen wie die Soldaten und atemberaubend schön, obwohl ihre bläuliche Hautfarbe selbst im Mondlicht befremdlich wirkte. Sie hielt ihre großen Augen niedergeschlagen, aber Schultern und Hals ließen eine Spur von Trotz erkennen. Ihre dunkle Haarpracht war hochgekämmt und wurde von einer glitzernden Juwelenkrone gehalten. Am erstaunlichsten aber war, daß ihr durchsichtige Flügel von den Schultern hingen, dünn wie Papier, aber farbenprächtig wie Buntglas, die im Mondlicht schillerten, als sie aus der beengenden Kabine trat.
    Aber was ihn aus der Fassung gebracht hatte, war etwas anderes. Er kannte sie.
    Paul konnte nicht sagen, wo oder wann er sie schon einmal gesehen hatte, aber er kannte diese Frau, erkannte sie so unmittelbar und fraglos, als ob er sein eigenes Gesicht im Spiegel gesehen hätte. Er wußte nicht, wie sie hieß, und wußte auch sonst nichts von ihr, aber er kannte sie und wußte, daß sie ihm irgendwie lieb und teuer war.
    Gallys kleine Hand ergriff ihn und hielt ihn fest. Er holte tief Atem und hatte ein Gefühl, als müßte er weinen.
    Sie trat von dem hohen Podest des Langboots auf den Landungssteg, den die tierartigen Matrosen ihr hingelegt hatten, und schritt dann langsam zur Insel hinunter. Ihr Kleid bestand aus zahllosen hauchzarten Fasern, die sie wie eine Nebelwolke umgaben und ihre langen Beine und ihren schlanken Körper schattenhaft durchschimmern ließen. Die Soldaten folgten ihr auf dem Fuße, wie um sie zu schützen, aber Paul meinte, in den Bewegungen der Frau ein Widerstreben erkennen zu können, das darauf hindeutete, daß die scharfen Klingen eher dazu gedacht waren, sie anzutreiben als zu verteidigen.
    Vor der Pyramide hielt sie an und kniete länger nieder, dann stand sie langsam auf und schritt den gefliesten Pfad auf den Bau zu, in dem Paul und Gally geschlafen hatten. Ein dünner Mann in einem langen Gewand war ihr vom Schiff gefolgt und ging jetzt ein paar Schritte hinter ihr. Paul war derart fasziniert von der Anmut ihrer Bewegungen, von der seltsamen Vertrautheit ihres Gesichts, daß sie direkt unter ihm war, ehe ihm einfiel, daß diese Besucher merken würden, daß er und Gally von den Opfergaben in dem kleinen Tempel gegessen hatten. Was würde geschehen, wenn man sie entdeckte? Auf so einer kleinen Insel gab es nirgends ein gutes Versteck.
    Vielleicht hatte er bei

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