Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
entfernten Teil vorgenommen würden. Er überlegte, ob er vielleicht… Er kam nicht auf das Wort, aber dafür tauchte das Bild eines Krankenhauszimmers auf, der Geruch von Alkohol, ein scharfer kleiner Schmerz wie von einem Insektenstich.
    Betäubt. Ob er betäubt worden war? Aber warum machten sie das …? Er war…
    Der Fluß. Er versuchte sich aufzusetzen, aber konnte nicht. Die zarten Verrichtungen, so sanft, so fern, gingen weiter. Er bemühte sich abermals um ein scharfes Bild und erkannte endlich, daß er auf die tanzenden Flammen eines Feuers starrte. Sein Kopf schien nur durch wenige Nerven mit seinem Körper verbunden zu sein: Er spürte etwas unter sich und konnte angeben, daß die Oberfläche rauh und unbequem war, aber sein Körper war taub, und das Unbehagen war rein spekulativ. Er versuchte zu sprechen, aber brachte nur ein leises Japsen heraus.
    Wie gerufen schob sich ein Gesicht quer in seine Sichtlinie. Es hatte einen Bart und buschige Brauen. Die braunen, tief in den schattigen Höhlen liegenden Augen waren rund wie die einer Eule.
    »Du bist kalt«, sagte das Gesicht mit tiefer und ruhiger Stimme. »Sterbenskalt. Wir werden dich wärmen.« Das Gesicht glitt wieder aus seiner Blickbahn.
    Paul kratzte die wenigen Gedanken zusammen, auf die er kommen konnte. Er hatte abermals überlebt, bis jetzt wenigstens. Er besann sich auf seinen Namen und alles, was ihm wieder eingefallen war, als er vor dem Banner mit der Rose und dem Kelch gekniet hatte. Aber wo er gewesen war, blieb ihm nach wie vor verschlossen, und wo er sich im Augenblick befand, war ein neues Geheimnis geworden.
    Er versuchte abermals vergeblich, sich aufzusetzen, aber schaffte es immerhin, sich auf die Seite zu wälzen. Das Gefühl kam langsam in seinen Körper zurück, Salven von Nadelstichen überall an den Beinen, die rasch schlimmer wurden – er wurde abwechselnd von Schüttelanfällen und Schmerzkrämpfen gepeinigt. Wenigstens konnte er endlich hinter den Vorhang aus Feuer schauen, obwohl es eine Weile dauerte, bis er verstand, was er vor sich hatte.
    Der Mann, der ihn angesprochen hatte, und ein halbes Dutzend andere bärtige, hohläugige Gestalten kauerten in einem Halbkreis um das Feuer. Sie hatten eine steinerne Decke über sich, aber befanden sich nicht in einer Höhle, sondern eher unter einem tiefen Felsüberhang in der Flanke eines Berges. Jenseits der Öffnung lag eine Welt von nahezu vollkommener Weiße, eine tief verschneite Welt, die sich bis zu einer zackigen Gebirgskette in der Ferne erstreckte. Am Fuße des Hangs, vielleicht eine halbe Meile entfernt, erblickte er das dünne graue Band des zugefrorenen Flusses und das schwarze Loch, aus dem diese Männer ihn gezogen hatten.
    Er schaute an sich hinunter. Der Mann, der gesprochen hatte, zerschnitt Pauls nasse Sachen mit einem schwarzen Stück Stein, das so behauen worden war, daß es die Form eines Blattes hatte. Er war außerordentlich kräftig gebaut und hatte breite Hände und flache Finger. Bekleidet war er mit einem Wust von zottigen Tierfellen, die er sich mit Sehnenschnüren an den Leib gebunden hatte.
    Neandertaler, dachte Paul. Es sind Höhlenmenschen, und dies ist die Eiszeit oder sowas. Es ist wie eine verdammte Museumsinstallation, nur mit dem Unterschied, daß ich darin lebe. Fünfzigtausend Jahre entfernt von allem, was ich kenne. Ein schreckliches Wehgefühl durchlief ihn. Er war lebendig, aber irgendwie hatte er sein Leben verloren, sein wirkliches Leben, und war anscheinend dazu verurteilt, auf ewig durch irgendein grauenhaftes Labyrinth zu irren, ohne je zu wissen warum. Tränen schossen ihm in die Augen und rannen ihm über die Wangen. Sogar das Zittern und die Schmerzen in seinen wieder erwachenden Nerven vergingen vor dem übermächtigen Leid des totalen Verlustes.
    Gally ist fort. Vaala ist fort. Meine Familie, meine Welt, alles fort.
    Er rollte sein Gesicht gegen den Stein, hielt eine Hand davor, um sich vor den Blicken der starrenden bärtigen Männer abzuschirmen, und weinte.
     
    Als das Steinmesser schließlich durch das letzte Stück seines Hemdes schlitzte, war Paul so weit, daß er sich hinsetzen konnte. Er schleifte sich etwas näher an das Feuer heran. Ein anderer seiner Retter reichte ihm ein großes Fell, das nach Fett und Rauch stank, und dankbar wickelte er sich darin ein. Sein Schüttelkrampf klang allmählich zu einem schwachen, aber anhaltenden Beben ab.
    Der mit dem Messer hob Pauls zerschlissene Sachen auf, die steif vor Eis

Weitere Kostenlose Bücher