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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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war. Er erinnerte sich lebhaft an sie, an das Schimmern ihrer Flügel, ihre Augen. Aber jetzt war der Käfig leer.
    Nein, fast leer. In der Mitte, fast begraben unter einem Wust von Kletterpflanzen, Wurzeln und Laubmulch, glitzerte etwas. Paul hockte sich hin, schob seinen Arm durch die fleckigen Stäbe und streckte ihn aus, so weit er konnte. Seine Hand schloß sich um etwas Glattes, Kühles und Schweres. Als er es hochhob und durch die Stäbe zog, erklang eine Folge silberheller Töne.
    Es war eine Harfe, ein schwungvoller goldener Bogen mit goldenen Saiten. Während er sie in der Hand hielt und darauf starrte, erwärmte sie sich in seinen Fingern und fing dann an zu schrumpfen und sich einzurollen wie ein Blatt am Feuer. Kurz darauf war sie so winzig wie eine Zwanzig-Penny-Münze.
    »Paul! Ich kann nicht…« Der gellende Schmerzensschrei, der folgte, brach hart und abrupt ab. Vor Schreck zitternd fuhr er hoch, schloß die Faust um das goldene Ding und schlug sich mit Gewalt einen Weg durch die zerkrümelnde Vegetation. Er war erst wenige Schritte weit gekommen, als vor ihm eine Tür aufragte, die fünfmal so hoch war wie er. Er berührte sie, und sie schwang nach innen auf.
    Der gewaltige Raum dahinter, so groß wie eine Flugzeughalle, hatte eine Holzbalkendecke und rohe Natursteinwände. Mächtige Räder drehten sich langsam; große Hebel gingen auf und nieder. Zahnräder von der Größe eines Doppeldeckerbusses griffen in noch größere Zahnräder, deren voller Umfang nicht zu erkennen war, aber deren Zacken durch riesige Schlitze in den Wänden hereingewandert kamen. Die Halle roch nach Öl und Blitz und Rost und klang nach langsamer Zerstörung. Der Lärm, das tiefe, stetige Knarren, das die wuchtigen Wände erzittern ließ, der monotone Hammerschlag großer niedergehender Gewichte, war das Lied eines unfaßbaren, unstillbaren Hungers, einer Maschinerie, die selbst die Fundamente von Raum und Zeit zerfressen konnte.
    Gally stand auf dem einzigen freien Platz in der Mitte der Halle. Zwei Gestalten hatten ihn eingekeilt, eine dünne und eine ungeheuer dicke.
    Von Verzweiflung wie umnachtet schritt Paul auf die Gruppe zu. Gally wehrte sich, aber die beiden hielten ihn mühelos fest. Der Dünne war ganz aus blinkendem Metall, eine unmenschliche Erscheinung mit Klauenhänden und einem augenlosen Kopf wie ein Kolben. Sein Gefährte war so dick, daß seine straff gespannte ölige Haut beinahe durchsichtig war und einen talgigen gelblich-grauen Schimmer hatte wie eine alte Prellung.
    Der Große verzog einen Mund voll abgebrochener Hauer zu einem solchen Grinsen, daß die Winkel in den teigigen Backen verschwanden. »Du bist zu uns zurückgekommen! Den ganzen weiten Weg – und aus freien Stücken!« Der Mund lachte, und die Backen wackelten. »Stell dir das vor, Nickelblech. Wie er uns vermißt haben muß! Zu schade, daß der Alte Mann nicht hier ist, um diesen Augenblick zu genießen.«
    »Nur recht und billig, daß der Jonas zurückkommt«, sagte der Metallische, wobei in seinem rechteckigen Mund eine innere Klappe auf- und zuging. »Leid sollt’s ihm tun, daß er uns so viel Scherereien gemacht hat, der ungezogene Kerl. Er sollte uns um Verzeihung bitten. Bitte uns um Verzeihung!«
    »Laßt den Jungen los.« Paul hatte die beiden noch nie gesehen, aber er kannte sie so gut und haßte sie so sehr wie das Krebsgeschwür, das seine Mutter langsam umgebracht hatte. »Ich bin’s, den ihr haben wollt.«
    »Du liebe Güte, wir wollen schon lange nicht mehr bloß dich«, sagte die metallische Kreatur. »Stimmt’s, Wabbelsack?«
    Der Dicke schüttelte den Kopf. »Gib uns erst mal, was du da in der Hand hast. Dafür geben wir dir dann den Jungen.«
    Paul spürte die harten Kanten der Harfe an der Haut seiner Finger. Warum wollten sie einen Handel machen? Warum die Umstände, hier in ihrem Machtbereich?
    »Tu’s nicht!« rief Gally. »Sie können nicht…« Das Ding, das Wabbelsack genannt worden war, verstärkte den Griff seiner schneckenartigen Finger um den Arm des Jungen, und dieser wand sich und kreischte und zuckte, als ob er auf ein unter Strom stehendes Bahngleis gefallen wäre.
    »Gib es uns«, sagte Nickelbleck. »Dann wird der Alte Mann vielleicht großzügig sein. Früher hattest du’s mal gut, Paul Jonas. Du könntest es wieder gut haben.«
    Paul hielt es nicht aus, Gallys aufgerissenen Mund und schmerzgepeinigte Augen anzuschauen. »Wo ist die Frau? Es war eine Frau in dem Käfig da.«
    Nickelblechs nahezu

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