Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Stellen Wurzeln, trieb aus und blühte. Ein Spaziergang mit seiner Großmutter an einem schulfreien Tag, und der kleine Paul, der hinter einer Hecke spielte, er wäre ein brummender Bär. Sein erstes Fahrrad mit plattem Reifen und krummer Felge, und das schreckliche Gefühl der Scham, weil er es kaputt gemacht hatte. Seine Mutter mit ihrem chemischen Atemfilter und ihrem Blick müder Resignation. Die Art, wie der Mond eingerahmt in den Zweigen eines knospenden Pflaumenbaumes vor seiner Wohnung in London hing.
Wo bin ich? Er betrachtete prüfend die kahlen weißen Wände, das Banner mit den eigenartig changierenden Farben. Neue, ganz andere Erinnerungen stiegen in ihm auf, scharf und grell und schroff wie die Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Ein Krieg, der Jahrhunderte zu dauern schien. Schlamm und Angst und eine Flucht durch fremdes Gebiet, unter fremden Menschen. Und dieser Ort hier auch. Er war hier schon einmal gewesen.
Wo bin ich gewesen? Wie bin ich hierhergelangt?
Alte Erinnerungen und neue verwuchsen, aber in ihrer Mitte lag eine Narbe, ein kahler Fleck, den sie nicht zudecken konnten. Die Wirrnis in seinem Kopf war schrecklich, aber am allerschrecklichsten war dieses Nichts.
Er kauerte sich nieder und hielt sich mit beiden Händen die Augen zu, rang um Klarheit. Was konnte geschehen sein? Sein Leben … sein Leben war ganz gewöhnlich gewesen. Schule, Studium, ein paar Liebeleien, zu viel mit Freunden zusammen gewesen, die mehr Geld hatten als er und sich die ausgedehnten mittäglichen Freß- und Saufgelage und die langen Nächte eher leisten konnten als er. Ein nicht besonders sauer verdienter Abschluß in … er brauchte einen Augenblick … Kunstgeschichte. Eine Stelle als kleiner Hilfskustos in der Tate Gallery, korrekter Anzug, steifer Hemdkragen, Besuchergruppen, die über die Installation »Der neue Genozid« mit der Zunge schnalzen wollten. Nichts Ungewöhnliches. Er war Paul Robert Jonas, er war alles, was er hatte, aber das machte ihn immer noch nicht zu jemand Besonderem. Er war niemand.
Warum das alles?
Geisteskrankheit? Eine Kopfverletzung? Konnte es einen derart detaillierten, einen derart beschaulichen Wahnsinn geben? Nicht daß es immer ruhig und friedlich gelaufen wäre. Er hatte Monster gesehen, gräßliche Ungetüme – er erinnerte sich so deutlich an sie wie an die Wäscheleine auf dem Dach vor dem Fenster seiner Studentenwohnung. Monster …
… Ein ungeheures Rasseln, Malmen, Dampfen …
Von jäher Angst erfüllt stand Paul auf. Er war schon einmal an diesem Ort gewesen, und etwas Schreckliches wohnte hier. Sofern ihn nicht eine unbegreifliche Fehlerinnerung täuschte, ein Déjà-vu mit gebleckten Zähnen, war er hier gewesen und war dies kein sicherer Ort.
»Paul!« Die Stimme klang schwach, weit weg und schrill vor Verzweiflung, aber er erkannte sie, noch bevor er wußte, aus welchem Teil seines Lebens sie kam.
»Gally?« Der Junge! Der Junge war bei ihm gewesen, als sie aus diesem fliegenden Schiff gefallen waren, aber unter dem Ansturm der wiederkehrenden Erinnerungen hatte Paul zugelassen, daß dieses Wissen ihm entglitt. Und jetzt? Wurde das Kind von diesem gewaltigen, unfaßbaren Ungetüm verfolgt, dem Maschinenriesen? »Gally! Wo bist du?«
Keine Antwort. Er zwang sich aufzustehen und eilte auf die Tür am anderen Ende des Saales zu. Dahinter die nächste Vorspiegelung von Realität und Erinnerung, beinahe schmerzhaft eindringlich. Staubige Pflanzen erstreckten sich in alle Richtungen, strebten den Dachbalken entgegen, wucherten die hohen Fenster fast gänzlich zu. Er verlief sich in einem Urwald, einem Zimmerdschungel. Jenseits davon – er wußte es, er erinnerte sich – war ein Riese …
… Und eine Frau, eine herzzerreißend schöne Frau mit Flügeln …
»Paul! Hilfe!«
Er stürzte in die Richtung, aus der die Stimme des Jungen gekommen war, durch das Gewirr der trockenen, gummiartigen Zweige hindurch. Blätter zerfielen ihm unter den Händen zu Pulver und vermehrten den Staub, der bei jeder seiner Bewegungen aufstob und durch die Luft wirbelte. Das Dickicht teilte sich vor ihm, und die wegschnellenden und zum Teil schon bei der bloßen Berührung zerbröckelnden Zweige gaben den Blick auf einen Käfig mit schlanken goldenen Stäben frei. Die Stäbe hatten schwarze und graue Flecken und waren von dunklen Ranken umwunden. Der Käfig war leer.
Trotz seiner Angst um den Jungen überkam Paul eine große Enttäuschung. Dies war der Ort, an dem sie gewesen
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