Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
hier keine Version war. Es war furchtbare Realität.
Aber wie kann ich an einem Ort in Zeit und Raum sein, der einer erfundenen Geschichte entstammt?
Schon ein kurzes Nachdenken darüber bereitete ihm Kopfschmerzen. Es gab viel zu viele Möglichkeiten, und alle waren vollkommen irrsinnig. War es eine Scheinwelt, basierend auf einem berühmten Roman, aber eigens für ihn gebaut? Aber das war unmöglich – er hatte die Vorstellung, jemand könnte eine ganze Eiszeitszenerie erschaffen, bereits absurd gefunden, und wie unfaßbar viel teurer wäre erst diese Londonkulisse gewesen? Und wenn er bedachte, wie viele verschiedene Orte er schon gesehen hatte… nein. Es war unmöglich. Aber was für Antworten kamen sonst noch in Frage? Konnte dies hier irgendwie real sein, ein London in einer anderen Dimension, in der Außerirdische aus dem Weltraum eine Invasion durchgeführt hatten und in die Wells sich irgendwie eingeklinkt hatte? War die Erfindung dieses alten Schriftstellers, das andere Universum, Wirklichkeit?
Oder stand noch etwas Merkwürdigeres dahinter, eine von diesen Quantengeschichten, von denen Muckler im Museum ständig schwadronierte? Hatte Wells’ Erfindung diesen Ort irgendwie ins Leben gerufen und eine Aufspaltung der Wirklichkeit verursacht, die erst damit entstand, daß der Mann aus Bromley den Schreibstift aufs Papier setzte?
Das führte nur zu weiteren Fragen, jede einzelne bestürzender als die davor. Hatte jede erfundene Geschichte ihr eigenes Universum? Oder bloß die guten? Und wer befand darüber?
Und war er selbst, dem bereits ein Teil seiner Vergangenheit fehlte, auf einer immer weiter ausufernden Reise wider Willen, die in immer weiter entfernte Dimensionen führte?
Zu einer anderen Zeit hätte er über die Vorstellung eines Viele-Welten-Universums, das von den Entscheidungen unbekannter Lektoren abhing, vielleicht gelacht, aber nichts an seiner Situation war im geringsten komisch. Er irrte durch ein verrücktes Universum, er war unvorstellbar weit von zuhause weg, und er war allein.
Er legte sich den Abend in einem verlassenen Restaurant in der Nähe des Cheyne Walk schlafen. Alles, was auch nur im entferntesten eßbar aussah, war geplündert worden, aber er war nicht besonders hungrig, nicht zuletzt deshalb, weil mit jedem Windwechsel der Verwesungsgeruch aus einer neuen Richtung wehte. Überhaupt konnte er sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal wirklich hungrig gewesen war, und nur undeutlich daran, wann er zum letztenmal etwas gegessen hatte, doch dieser Gedanke warf nur weitere Fragen auf, und er hatte von Fragen fürs erste genug. Er riß die Vorhänge von den Fenstern und wickelte sich gegen die Kälte vom Fluß darin ein, dann sank er in einen schweren, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Tag konnte er seinen Weg themseaufwärts mit erhöhter Geschwindigkeit fortsetzen, weil er sich aus einem anderen verlassenen Boot ein Paar Ruder geholt hatte, und dabei stellte er fest, daß er nicht der einzige Mensch in diesem verwüsteten London war. Vom Fluß aus und bei einigen vorsichtigen Landgängen im Laufe des Tages erblickte er fast ein Dutzend anderer Leute, doch sie waren kontaktscheu wie Ratten: Alle ignorierten seinen Zuruf entweder, oder sie flohen sogar bei seinem Anblick. Bei dem Gedanken an das Restaurant, aus dem alles Eßbare geraubt worden war, und an die Geschäfte, die er beiderseits davon durchstöbert hatte, fragte er sich, ob diese Leute nicht gute Gründe hatten, anderen Überlebenden aus dem Weg zu gehen. Und Überlebende waren sie offensichtlich alle, denn sie waren so zerlumpt und schwarz vor Schmutz und Ruß, daß er aus der Entfernung von keinem die Volkszugehörigkeit hätte angeben können.
Am Tag darauf stieß er in Kew auf eine ganze Gruppe, mehrere Dutzend Menschen in abgerissener Kleidung, die im königlichen Garten hausten. Paul ging nicht an Land, sondern rief ihnen vom Fluß aus zu und fragte nach Neuigkeiten. Eine kleine Abordnung kam ans Ufer und berichtete, daß die Außerirdischen – die »Maschinenwesen«, wie diese Überlebenden sie nannten – zum größten Teil aus London abgezogen seien und weiter im Norden ihre unerforschlichen Ziele verfolgten, aber daß noch genügend zurückgeblieben seien, um das Leben in der Stadt zu einer sehr riskanten Angelegenheit zu machen. Sie selbst seien erst vor einer Woche aus dem beinahe völlig zerstörten Lambeth nach Kew Gardens gekommen und hätten schon einige aus ihrer Schar verloren, die gerade
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