Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
über eine offene Wiese gegangen seien, als ein Dreifuß erschienen und auf sie getreten sei, allem Anschein nach zufällig. Wenn sie die letzten der hiesigen Eichhörnchen und Vögel gefangen und verzehrt hätten, erzählten die Leute aus Kew Paul, wollten sie weiterziehen.
Es tat wohl, mit anderen Menschen zu reden, aber etwas an der Art, wie sie ihn inspizierten, flößte Paul ein unbehagliches Gefühl ein. Einer der Männer lud ihn ein, sich ihnen anzuschließen, aber er bedankte sich und ruderte lieber weiter.
Am merkwürdigsten fand er, als er seinen Weg flußaufwärts Richtung Richmond fortsetzte, daß so, wie er den Krieg der Welten in Erinnerung hatte, die Marsianer anfällig für irdische Krankheiten gewesen und binnen weniger Wochen nach Beginn ihres Vernichtungsfeldzuges gestorben waren. Aber die Überlebenden in Kew hatten erzählt, das erste der Marsschiffe sei vor über einem halben Jahr in Surrey gelandet. Paul wunderte sich über diese Abweichung von der Wellsschen Geschichte, und wenn er Fetzen von Zeitungen aus den letzten Tagen vor der Invasion fand, hob er sie auf, aber natürlich gab es nichts, dem er das aktuelle Datum hätte entnehmen können. Die Zivilisation war am Tag, als die Marsianer kamen, mit einem Schlag abgebrochen.
Im Grunde war dies das Merkwürdige an der ganzen Situation. Im Unterschied zu den anderen Stationen auf seiner unfreiwilligen Pilgerfahrt schien dieses Nachkriegsengland eine Art Stasis erreicht zu haben, als ob jemand nach einem beendeten Spiel fortgegangen wäre, ohne die Figuren vom Brett zu räumen. Wenn London in irgendeiner Weise typisch war, dann war das Land, vielleicht sogar die ganze Welt, vollkommen in den Händen der Eroberer. Die Wesen selbst hatten nur eine minimale Besatzungsmacht zurückgelassen. Das winzige Häuflein verbliebener Menschen kämpfte ums nackte Überleben. Es war alles so … leer.
Dies gab den Anstoß zu einem anderen Gedanken, der sich zusehends verdichtete, während Paul im Laufe des Tages noch eine gute Handvoll herumfleddernder Menschen passierte und ergebnislos anrief. Alle Orte, an denen er gewesen war, seit er irgendwie sein normales Leben verloren hatte, waren so … so alt. Es waren Situationen oder Szenarien aus einer völlig anderen Zeit der H.-G.-Wells-Roman von der vorletzten Jahrhundertwende, die absonderliche Marswelt alter Groschenromane – ganz anders als der Mars, der diese Invasoren ausgesandt hatte, was überhaupt ein recht interessanter Gedanke war – und das Land hinter den Spiegeln, wo er Gally getroffen hatte. Selbst seine trübsten Erinnerungen schienen sich auf einen uralten und längst beendeten Krieg zu beziehen. Und die Eiszeit – das war so alt, älter ging’s kaum mehr. Doch es schien noch ein anderes gemeinsames Element zu geben, etwas, das ihn beunruhigte, das er aber nicht recht benennen konnte.
Es war der vierte Tag, und er war knapp östlich von Twickenham, als er ihnen begegnete.
Er war gerade an einer kleinen Insel mitten im Fluß vorbeigekommen und arbeitete sich an einer grünen Lichtung auf der Nordseite des Flusses vorbei, einem Park, wie es den Anschein hatte, als er am Ufer einen Mann ziellos auf und ab gehen sah. Paul hielt ihn zunächst für einen von denen, die durch die Invasion den Verstand verloren hatten, denn als er ihn anrief, blickte der Mann auf und starrte ihn an, als ob Paul ein Geist wäre. Gleich darauf begann der Mann auf der Stelle zu hüpfen und die Arme zu schwenken wie ein spastischer Signalgeber, wobei er immer wieder schrie: »Gott sei Dank! Lieber Himmel! Gott sei Dank!«
Paul steuerte näher an das Flußufer heran, und der Fremde lief zu ihm herunter. Da die Vorsicht längst schon über seinen Wunsch nach Gemeinschaft mit lebendigen Menschen die Oberhand gewonnen hatte, hielt Paul sich ein Stückchen weit draußen auf dem Wasser und nahm dabei eine rasche Begutachtung vor. Der nicht mehr junge Mann war dünn und sehr klein, vielleicht nicht viel größer als einen Meter fünfundfünfzig. Er trug eine Brille und einen kleinen Schnurrbart von der Art, den eine spätere Generation mit deutschen Diktatoren identifizieren sollte. Aber abgesehen von dem abgerissenen Zustand seines schwarzen Anzugs und den Tränen der Dankbarkeit in den Augen hätte er gerade von seinem Schreibtisch in einem kleinen, muffigen Versicherungsbüro kommen können.
»Oh, dem Herrgott sei Dank! Bitte helfen Sie mir!« Der Mann zog ein Taschentuch aus der Westentasche und tupfte sich
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