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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Höflichkeitsanrede machte er sich bereits das antiquierte Anstandsempfinden der Zeit zu eigen, auch wenn der Überfall der Marsianer es völlig sinnentleert hatte. Er nahm die Sache in Angriff.
    Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, die Frau aus den Zweigen unten im Graben herauszuholen, da sie jedesmal vor Schmerz aufkreischte, wenn ihre Haare gezogen wurden, einerlei wie behutsam. Als sie endlich befreit war, machten sich Paul und Sefton Pankie an die Schwerstarbeit, sie die Steigung hinaufzubefördern. Es war schon fast dunkel, als schließlich alle aufgelöst, schmutzig und schweißnaß oben auf ebenes Terrain stolperten.
    Die Frau sank zu Boden wie ein einbrechendes Zelt und war erst nach längerem Zureden zu bewegen, sich aufzusetzen. Paul sammelte trockene Zweige für ein Feuer, während Pankie sie umflatterte wie ein Madenhacker ein Nilpferd und sie mit seinem Taschentuch vom schlimmsten Schmutz zu säubern versuchte (womit er, fand Paul, in einem Sinnlosigkeitswettbewerb den ersten Preis gewonnen hätte). Als Paul fertig war, zog Pankie ein paar Streichhölzer aus der Tasche, in dieser Zeit zweifellos ein hochgeschätztes Gut. Mit äußerster Vorsicht führten sie eines seiner Bestimmung zu, und als die Sonne schließlich hinter der zerklüfteten Stadtsilhouette auf der anderen Flußseite verschwunden war, stiegen die Flammen hoch in die Luft, womit auch die allgemeine Stimmung stieg.
    »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken«, sagte die Frau. Ihr rundes Gesicht war zerkratzt und beschmiert, aber sie schenkte ihm ein deutlich einnehmend gemeintes Lächeln. »Es mag Ihnen komisch vorkommen nach allem, was passiert ist, aber ich finde, eine ordentliche Begrüßung muß sein. Ich heiße Undine Pankie.« Sie hielt ihm die Hand hin wie eine köstliche Süßigkeit, die er genießen durfte. Paul überlegte, ob sie womöglich einen Handkuß erwartete, fand dann aber, daß irgendwo eine Grenze gezogen werden mußte. Er ergriff die Hand und stellte sich der Frau mit seinem eilig gewählten falschen Namen vor.
    »Meine Dankbarkeit ist gar nicht in Worte zu fassen«, erklärte sie. »Als mein Mann so lange ausblieb, befürchtete ich, er wäre in die Hände von Plünderern geraten. Sie können sich vorstellen, wie entsetzt ich war, so mutterseelenallein in diesem schrecklichen Graben festzusitzen.«
    Paul legte die Stirn in Falten. »Wie bitte – Ihr Mann?« Er wandte sich Pankie zu. »Sie sagten, Sie brauchten Hilfe für Ihre Schwester.« Er blickte wieder die Frau an, aber sie schaute vollkommen unschuldig drein, auch wenn eine kaum zu verhehlende Ungehaltenheit zu erkennen war.
    »Schwester? Sefton, wie konntest du nur so etwas Seltsames sagen?«
    Der kleine Mann, der sich vergebens damit abgemüht hatte, ihre Haare einigermaßen zu richten, ließ ein verlegenes Kichern hören. »Ja, nicht wahr? Ich habe keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Daran muß diese ganze Invasion schuld sein. Ich bin völlig durcheinander.«
    Paul gab sich mit ihrer Erklärung zufrieden – Undine Pankie machte gewiß nicht den Eindruck, bei einem Betrugsmanöver ertappt worden zu sein –, aber er hatte irgendwie ein ungutes Gefühl.
     
    Frau Pankie erholte sich recht rasch und verbreitete sich den Rest des Abends ausführlich darüber, wie grauenhaft die Invasion vom Mars war und wie schrecklich das Leben im offenen Park, ohne schützendes Dach überm Kopf. Beide Schicksalsschläge schienen sie ungefähr gleich hart zu treffen.
    Undine Pankie war eine geschwätzige Person, und bevor Paul sich entschuldigte und schließlich schlafen legte, hatte sie ihm mehr über das Kleinbürgerdasein in Shepperton vor und nach der Invasion erzählt, als er je hatte wissen wollen. Herr Pankie, stellte sich heraus, war Oberkanzlist im Katasteramt der Grafschaft, obwohl er, daran ließ seine Frau keinen Zweifel, eigentlich eine deutlich höhere Stellung verdient hätte. Paul hatte den Eindruck, daß sie der Meinung war, diesem Mißstand könne eines Tages mit Fleiß und geschicktem Taktieren abgeholfen werden – was ihm ziemlich unwahrscheinlich vorkam, solange die Marsianer nicht das Katasteramt wieder aufmachten. Aber er verstand das Bedürfnis, sich in unnormalen Situationen an Normalitäten zu klammern, und als Frau Pankie die Gemeinheit des ungerechten Vorgesetzten ihres Mannes beschrieb, gab er sich daher alle Mühe, gebührend betrübt und dabei doch optimistisch im Hinblick auf Herrn Pankies berufliches Fortkommen zu wirken.
    Frau Pankie

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