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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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verlieren –, aber andere Dinge schon. Ich vermißte meine Eltern, auch wenn sie mich verraten hatten, und ohne es erklären zu können, hatte ich, glaube ich, angefangen zu befürchten, daß ich nie wieder ans Licht zurückkehren würde.
    Diese Furcht sollte sich freilich als begründet erweisen.
    Von Zeit zu Zeit ließ mich Doktor Beck über den Tonkanal des abgeschalteten Wandbildschirms mit einem der anderen Kinder reden. Einige von ihnen waren wie ich in der Dunkelheit isoliert, andere waren im Licht. Ich weiß nicht, was die Forscher davon hatten – wir waren schließlich Kinder, und Kinder können zwar zusammen spielen, aber sie sind keine Konversationsgenies. Nur ein Kind war anders. Als ich zum erstenmal seine Stimme hörte, fürchtete ich mich. Sie brummte und quäkte – vor meinem inneren Auge hatte der Klang eine harte, eckige Gestalt, wie ein altes mechanisches Spielzeug –, und einen Akzent wie ihren hatte ich noch nie gehört. Rückblickend kann ich sagen, daß die Töne aus einem Sprach Synthesizer kamen, aber zu dem Zeitpunkt malte ich mir ziemlich erschreckende Bilder davon aus, was oder wer so eine Zunge in seinem Mund haben konnte.
    Die absonderliche Stimme fragte mich nach meinem Namen, aber ihren sagte sie nicht. Sie klang zögernd und machte viele lange Pausen. Die ganze Angelegenheit kommt mir heute merkwürdig vor, und ich frage mich, ob ich mit einer Form von künstlicher Intelligenz gesprochen haben könnte oder mit einem autistischen Kind, dem mit technischen Mitteln geholfen werden sollte, aber damals war ich, wie ich mich erinnere, sowohl fasziniert als auch genervt von diesem neuen Spielgefährten, der so lange brauchte, um etwas zu sagen, und der so seltsam sprach, wenn die Worte endlich kamen.
    Es sei allein, sagte das Kind. Es saß wie ich im Dunkeln, oder jedenfalls schien es nicht sehen zu können – es sprach niemals anders von sichtbaren Dingen als in deutlich angelernten Metaphern. Vielleicht war es blind, wie ich jetzt blind bin. Es wußte nicht, wo es war, aber es wollte hinaus – das sagte es mehrmals.
    Dieses Kind war das erste Mal nur wenige Minuten bei mir, doch die anderen Male redeten wir länger. Ich brachte ihm einige der Geräuscherkennungsspiele bei, die die Forscher an mir ausprobiert hatten, und ich sang ihm Lieder vor und sagte ihm einige der Kinderverse auf, die ich kannte. Seine Auffassungsgabe war bei manchen Sachen eigenartig langsam und bei anderen geradezu bestürzend rasch – zeitweise schien es in meinem pechschwarzen Raum neben mir zu sitzen und irgendwie alles zu beobachten, was ich machte.
    Bei unserem fünften oder sechsten ›Besuch‹, wie Doktor Beck dazu sagte, erklärte es mir, ich sei seine Freundin. Ich kann mir kein herzzerreißenderes Geständnis vorstellen, und es wird mir ewig unvergeßlich bleiben.
    Viele Tage meines Erwachsenenlebens habe ich damit verbracht, dieses verlorene Kind zu suchen, habe in den Unterlagen des Instituts jede mögliche Fährte verfolgt, jede Person überprüft, die je mit den Pestalozzi-Experimenten zu tun hatte, aber ohne Erfolg. Heute frage ich mich, ob es überhaupt ein Kind war. Waren wir vielleicht die Versuchskaninchen irgendeines Turingtests? Die Sparringspartner für ein Programm, das eines Tages auch für Erwachsene nicht mehr durchschaubar sein sollte, aber in diesem frühen Stadium sich nur durch Gespräche mit Achtjährigen durchwursteln konnte, und auch das nur mit Mühe und Not?
    Wie auch immer, ich habe nie wieder mit ihm gesprochen. Denn etwas anderes geschah.
    Ich war schon seit vielen Tagen im Dunkeln, seit über drei Wochen. Die Forscher des Instituts hatten vor, meinen Teil des Experiments binnen achtundvierzig Stunden zum Abschluß zu bringen. Deshalb wurde ich von Frau Fürstner mit pseudomütterlicher Wärme einer besonders komplexen und gründlichen abschließenden Testreihe unterzogen, als irgend etwas schiefging.
    Die Aussagen vor Gericht sind unklar, weil die Pestalozzi-Mitarbeiter sich selber nicht sicher waren, aber irgendwie kam es in dem komplizierten Haussystem des Instituts zu einer schwerwiegenden Störung. Ich nahm sie zuerst als das Aussetzen von Frau Fürstners sanfter, verzaubernder Stimme mitten im Satz wahr. Das Summen der Klimaanlage, das ein konstanter Faktor der Raumatmosphäre gewesen war, hörte plötzlich ebenfalls auf, und eine Stille trat ein, die mir regelrecht in den Ohren weh tat. Alles war fort – alles. All die freundlichen Töne, die die Dunkelheit etwas

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