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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Wollen wieder sehen könnte, dann hätte ich nicht die ganzen Jahre in schwarzer Nacht verbracht – kann jemand im Ernst etwas anderes annehmen? Aber dieser eine lodernde Blitz vertrieb jede Erinnerung daran, wie das geht, Sehen, aus meinem Bewußtsein, stieß mich in ewige Schwärze und machte aus mir mit einem Schlag die Frau, die ich heute bin, genau wie Saulus auf der Straße nach Damaskus zu einem neuen Menschen gemacht wurde.
    Seitdem lebe ich in der Dunkelheit.
    Der Prozeß zog sich lange hin – fast drei Jahre –, aber ich kann mich kaum noch daran erinnern. Ich war in eine andere Welt versetzt worden, ganz als hätte mich eine böse Fee verzaubert, und ich hatte alles verloren. Es dauerte lange, bis ich anfing, mir eine neue Welt zu schaffen, in der ich leben konnte. Meine Eltern bekamen etliche Millionen Kredite von Clinsor und dem Pestalozzi Institut und legten fast die Hälfte davon für mich auf die Seite. Mit diesem Geld konnte ich mir einen Sonderbildungsgang finanzieren, und als ich erwachsen war, kaufte ich mir damit meine technische Ausstattung, meinen Wohnsitz und meine Ruhe. In gewisser Weise kaufte ich mir damit auch die Trennung von meinen Eltern – es gibt nichts, was ich noch von ihnen bräuchte.
    Es gibt noch mehr zu sagen, aber die Zeit ist so schnell vergangen. Ich weiß nicht, wie lange ich hier verstohlen flüsternd gesessen habe, aber ich spüre, wie gerade die Sonne an diesem seltsamen Ort aufzugehen beginnt. In gewisser Weise habe ich hier neu angefangen, so wie ich auch dieses neue Tagebuch angefangen habe, das ich nur mit der leisesten Hoffnung, es eines Tages wiederzufinden, ins Nichts spreche. War es der englische Dichter Keats, der sich als einen bezeichnete, ›dessen Name auf Wasser geschrieben ist‹? Gut. Ich werde Martine Desroubins sein, die blinde Hexe einer neuen Welt, und ich werde meinen Namen auf Luft schreiben.
    Jemand ruft mich. Ich muß gehen.
    Code Delphi. Hier aufhören.«
     
     
    > Es war eine melodische Reihe glockenheller Töne, die sich in fraktale Teilreihen fortpflanzte, während gleichzeitig das Hauptthema wiederholt wurde. Die Teilreihen erzeugten ihrerseits eigene Substrukturen, Schicht für Schicht, bis nach einer Weile die ganze Welt ein derart komplexes Klanggewebe wurde, daß es unmöglich war, einen einzelnen Ton oder gar eine einzelne Reihe herauszugreifen. Irgendwann wurde das Ganze ein einziger Ton mit Millionen von mitklingenden Obertönen, ein fließendes, schimmerndes, schwingendes Fis, das wahrscheinlich der uranfängliche Ton des Universums war.
    Es war Dreads Denkmusik. Außer der Jagd und einem gelegentlichen Weckaminschub war sie seine einzige Droge. Er setzte sie nicht wahllos ein, nicht gierig wie ein Chargehead, der sich einen gestreamten Pop 2black durch die Can reinzieht, sondern vielmehr mit der Gelassenheit eines süchtigen Arztes, der sich einen Schuß unverschnittenen, apothekenreinen Heroins setzt, bevor er wieder an die Arbeit geht. Er hatte sich den Nachmittag freigehalten, ein digitales Schild »Bitte nicht stören« in seine Leitungen gehängt, und jetzt lag er in seinem Büro in Cartagena auf dem Teppich, ein Kissen im Nacken und eine Plastikflasche mit gefiltertem Wasser neben sich, und lauschte dem Sphärengesang.
    Während der eine Ton immer ruhiger und weniger komplex zu werden schien – paradoxerweise deshalb, weil die Wiederholungen sich exponentiell vervielfachten –, spürte er, wie er aus seinem Körper in den leeren silbernen Raum aufstieg, nach dem er strebte. Er war Dread, aber er war auch Johnny Wulgaru, und er war noch jemand anders, einer, der eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit dem Todesboten des Alten Mannes hatte – doch er war mehr. Er war das alles, aufgetrieben zur Größe eines Sternensystems … leer, voller Schwärze und doch aufgeladen mit Licht.
    Er fühlte, wie der Dreh aus dem Schlummerzustand aufglomm, ein heißer Punkt in seinem innersten Zentrum. Er schwebte durch das silberne Nichts der Musik, und seine Kraft wuchs. Er konnte jetzt zugreifen, wenn er wollte, und etwas viel Komplexeres und Stärkeres als ein Sicherheitssystem verdrehen. Einen Moment lang sah er die Erde unter sich liegen, in Dunkel gehüllt bis auf ein kugelrundes Gespinst elektronischer Pfade, ein Kapillarsystem winziger Lichter, und in seiner silbernen, mit Musik aufgeputschten Großmächtigkeit hatte er das Gefühl, die ganze Welt verdrehen zu können, wenn es ihm beliebte.
    Irgendwo fühlte Dread sich lachen.

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