Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
als wäre es im Prinzip dasselbe wie die Angst davor, ins Sommerlager zu fahren oder den ersten Tag in die Schule zu gehen, und hielten mir vor, ich mache ein großes Getue um nichts, aber selbst ihnen muß aufgegangen sein, daß ihre elterliche Sorge zu wünschen übrigließ. Sie servierten mir jeden Abend meine liebsten Nachspeisen und rauchten zwei Wochen lang kein Hasch, um mir mit dem gesparten Geld eine neue Ausstattung kaufen zu können.
Für meine Reise zu dem Institut zog ich meinen neuen Mantel und mein neues Kleid an. Nur mein Vater flog mit mir nach Zürich – zu dem Zeitpunkt konnte meine Mutter ohne stundenlange Vorbereitung nicht einmal mehr ein Päckchen in den Postkasten an der Ecke werfen. Als wir landeten, war der Himmel so grau, daß ich die stumpf metallische Farbe die ganzen dazwischenliegenden Jahre der Finsternis über nicht vergessen habe, und ich war mir sicher, daß mein Vater vorhatte, mich meinem Schicksal zu überlassen, so wie der Vater von Hänsel und Gretel seine Kinder im Wald ausgesetzt hatte. Die Leute vom Pestalozzi Institut holten uns in einem großen schwarzen Auto ab, genau die Art, in die man kleinen Mädchen beibringt, niemals einzusteigen. Alles wirkte sehr geheimnisvoll und ominös. Das wenige, was ich auf der Fahrt zum Institut von der Schweiz sah, erschreckte mich – die Häuser waren fremdartig, und es lag schon Schnee, obwohl es in Toulouse noch angenehm warm gewesen war. Als wir bei dem Komplex niedriger Gebäude ankamen, dessen umliegende Gärten zu einer freundlicheren Jahreszeit bestimmt auch freundlich wirkten, wurde mein Vater gefragt, ob er die erste Nacht vor Beginn des Experiments mit mir zusammenbleiben wolle. Er hatte sein Rückflugticket für den Abend bereits in der Tasche, weil es ihn mehr beunruhigte, meine Mutter allein zu lassen als mich. Ich weinte und küßte ihn nicht zum Abschied.
Seltsam, seltsam… die ganze Sache war seltsam. Ich bat meine Eltern später – nein, ich verlangte von ihnen, mir zu sagen, wie sie ein kleines Kind auf so eine Weise hatten fortschicken können. Sie konnten keinen anderen Grund dafür angeben, als daß sie es zu dem Zeitpunkt für eine gute Idee gehalten hätten. ›Wer konnte sich vorstellen, daß sowas passieren würde, Liebes?‹ war der Spruch meiner Mutter. Ja, wer? Vielleicht Menschen, die sich noch um andere Dinge außer dem Wandbildschirm und dem Wohnzimmer kümmerten.
Oh, ich werde heute noch wütend, wenn ich daran denke.
Auf ihre Weise waren die Leute im Pestalozzi Institut sehr nett. Sie arbeiteten mit vielen Kindern, und die Schweizer lieben ihre Söhne und Töchter nicht weniger als andere Völker. Es gab mehrere Berater im Mitarbeiterstab, deren einzige Aufgabe es war, dafür zu sorgen, daß die Versuchspersonen – Forschungsgegenstand des Instituts war fast ausschließlich die kindliche Entwicklung – sich wohl fühlten. Ich erinnere mich an eine Frau Fürstner, die besonders freundlich war. Ich frage mich oft, was aus ihr geworden ist. Sie war nicht älter als meine Mutter, daher lebt sie wahrscheinlich noch, möglicherweise immer noch in Zürich. Allerdings wage ich zu behaupten, daß sie nicht mehr für das Institut arbeitet.
Ich bekam ein paar Tage, um mich an meine neue Umgebung zu gewöhnen. Ich war in einer Art Schlafsaal untergebracht, zusammen mit vielen anderen Kindern, von denen die meisten französisch sprachen, so daß ich nicht einsam im gewöhnlichen Sinne des Wortes war. Unsere Verpflegung war gut, und unsere Wärter gaben uns alle Spielzeuge und Spiele, die wir haben wollten. Ich schaute mir Science-fiction-Sendungen aus dem Netz an, obwohl sie ohne den laufenden Kommentar meiner Eltern eigenartig leblos wirkten.
Schließlich stellte mich Frau Fürstner einer Frau Doktor Beck vor, einer Frau mit goldenen Haaren, die in meinen Augen so hübsch war wie eine Märchenprinzessin. Während mir die Frau Doktor mit ihrer gütigen, geduldigen Stimme erklärte, was man von mir erwartete, fiel es mir immer schwerer zu glauben, daß etwas Schlimmes passieren würde. So eine schöne Frau würde niemals versuchen, mir etwas zu tun. Und selbst wenn irgendein Fehler geschah, wußte ich, daß Frau Fürstner nicht zulassen würde, daß ich Schaden nahm. Ich war immer behütet gewesen – wenn auch nicht in den wesentlichsten Hinsichten, wie mir später klar wurde –, und jetzt versicherten mir diese guten Leute, daß sich wenigstens in dem Punkt nichts ändern würde.
Ich sollte an einem
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