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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Experiment mit sensorischer Deprivation teilnehmen. Ich bin mir immer noch nicht ganz im klaren darüber, welche Erkenntnisse sich das Institut von diesen Versuchen versprach. Bei der Verhandlung erklärten die Mitarbeiter, sie seien beauftragt gewesen, unbeeinflußte biologische Rhythmen zu untersuchen, aber auch zu erforschen, wie Umweltfaktoren sich auf Lernfähigkeit und Entwicklung auswirken. Welchen Nutzen das für einen multinationalen medizinischen und pharmazeutischen Konzern wie die Clinsor-Gruppe haben könnte, wurde nie richtig klar, aber die Clinsorleute hatten einen riesigen Forschungsetat und viele Interessen – das Pestalozzi Institut war nur einer von vielen Nutznießern ihrer Freigebigkeit.
    Es werde einfach ein etwas anderer Urlaub sein, erläuterte mir Doktor Beck. Ich solle in einem sehr dunklen, sehr stillen Raum allein bleiben – ähnlich meinem Zimmer zuhause, aber mit eigener Toilette. Es werde reichlich Spielsachen und Spiele und Übungen zu meiner Beschäftigung geben, nur müsse alles im Dunkeln stattfinden. Aber eigentlich wäre ich gar nicht richtig allein, erklärte mir die Frau Doktor, weil sie oder Frau Fürstner immer über die Lautsprecher zuhören würden. Ich könne mich jederzeit bei ihnen melden, und sie würden mit mir sprechen. Es werde nur wenige Tage dauern, und wenn alles vorbei sei, würde ich soviel Kuchen und Eis bekommen, wie ich essen könne, und jedes Spielzeug, das ich haben wolle.
    Und meine Eltern, fügte sie erst gar nicht hinzu, würden dafür Geld bekommen.
    Es wirkt albern, das hier zu erwähnen, übertrieben bedeutungsschwer, aber als Kind hatte ich mich vorher im Dunkeln nie besonders gefürchtet. Wenn dies hier ein Roman wäre, könnte ich mein Journaldiktat mit dem Satz beginnen: ›Als Kind hatte ich keine Angst vor der Dunkelheit.‹ Freilich, wenn ich gewußt hätte, daß ich den Rest meines Leben in der Dunkelheit verbringen würde, hätte ich mich vielleicht dagegen gewehrt, darin eingetaucht zu werden.
    Viele der Informationen, die das Pestalozzi Institut aus den Versuchen mit sensorischer Deprivation an mir und den anderen getesteten Kindern sammelte, waren im wesentlichen redundant. Das heißt, sie bestätigten nur, was bereits an erwachsenen Versuchspersonen herausgefunden worden war, an Leuten, die sich lange unter der Erde, in Höhlen oder in lichtlosen Zellen aufgehalten hatten. Bei den Kindern gab es ein paar Abweichungen von den Erwachsenen – sie paßten sich auf lange Sicht besser an, allerdings war auch die Wahrscheinlichkeit höher, daß sie in ihrer langfristigen Entwicklung negativ beeinflußt wurden –, aber solche naheliegenden Ergebnisse kommen einem bei so einem teuren Programm sehr mager vor. Als ich Jahre später die Zeugenaussagen studierte, die die Forscher des Unternehmens vor Gericht gemacht hatten, mußte ich erbittert feststellen, wie wenig Erkenntnisse durch den Verlust meines Glücks gewonnen worden waren.
    Wie Doktor Beck gesagt hatte, war anfangs alles ganz einfach. Ich aß, spielte und verbrachte meine Tage im Dunkeln. Ich legte mich in völliger Finsternis schlafen und wachte in demselben schwarzen Nichts wieder auf, häufig vom Klang der Stimme eines Forschers oder einer Forscherin. Ich war von diesen Stimmen bald regelrecht abhängig, und nach einer Weile konnte ich sie sogar sehen. Sie hatten Farben, Formen – es fällt mir nicht leicht, das zu beschreiben, wie ich auch meinen gegenwärtigen Reisegefährten nicht beschreiben kann, wie meine Wahrnehmungen dieser künstlichen Welt sich von ihren unterscheiden. Ich bekam einen ersten Eindruck von der Synästhesie aufgrund der reduzierten Sinnesreize, nehme ich an.
    Die Spiele und Übungen waren zunächst ganz simpel, Geräuscherkennungsrätsel, Tests meines Zeitgefühls und meines Gedächtnisses, Versuche, um festzustellen, wie die Dunkelheit meinen Gleichgewichtssinn und meine allgemeine Koordination beeinflußte. Bestimmt wurde das, was ich aß und trank und ausschied, ebenfalls kontrolliert.
    Es dauerte nicht lange, bis ich jeden Zeitbegriff verlor. Ich schlief, wenn ich müde war, und konnte, wenn die Forscher mich nicht weckten, zwölf und mehr Stunden schlafen – oder genausogut eine Dreiviertelstunde. Und wie zu erwarten, erwachte ich aus diesen Schlummerzuständen ohne jedes Gefühl dafür, wie lange ich weg gewesen war. Das an sich störte mich nicht – erst wenn wir älter werden, erschreckt uns der Gedanke, wir könnten die Kontrolle über die Zeit

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