Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
genug, um zu wissen, daß die Dinge zuhause im argen lagen, aber ohne die leiseste Chance, etwas daran zu ändern. Ein Freund meines Vaters nannte ihm ein Forschungsunternehmen, bei dem meine Mutter vielleicht Arbeit finden könne. Sie hatte kein Interesse – höchstens ein Brand hätte sie zu dem Zeitpunkt noch aus dem Haus treiben können, glaube ich, und nicht einmal dessen bin ich mir sicher –, aber mein Vater ging der Sache nach, vielleicht weil er meinte, dort eine zusätzliche Teilzeitarbeit zu finden.
Das war nicht der Fall, obwohl er mehrere Vorstellungsgespräche absolvierte und eine der Projektleiterinnen ziemlich gut kennenlernte. Diese Frau, von der ich ehrlich glaube, daß sie meinem Vater einen Gefallen tun wollte, erwähnte, daß sie zwar im Augenblick keine weiteren Ingenieure bräuchten, dafür allerdings Testpersonen für ein bestimmtes Projekt, und das Unternehmen, das die Forschungen finanzierte, zahle sehr gut.
Mein Vater wollte sich melden. Sie teilte ihm mit, daß er die Anforderungen nicht erfülle, aber seinen Bewerbungsunterlagen nach zu urteilen, komme seine achtjährige Tochter dafür in Frage. Es handele sich um ein Experiment, mit dem die Entwicklung der Sinneswahrnehmungen erforscht werden solle, und der Geldgeber sei die Schweizer Clinsor-Gruppe, spezialisiert auf medizinische Technik. Ob er Interesse habe.
Zu seinen Gunsten muß ich sagen, daß mein Vater Marc nicht sofort zustimmte, obwohl die angebotene Summe beinahe seinem Jahresgehalt entsprach. Er kam ziemlich verstört nach Hause. Er und meine Mutter führten den ganzen Abend lang geflüsterte Diskussionen vor dem Bildschirm und lautere, nachdem sie mich zu Bett gebracht hatten. Später fand ich heraus, daß zwar keiner von ihnen sich eindeutig für oder gegen die Idee aussprach, aber daß die durch das Angebot ausgelöste wechselnde Uneinigkeit sie trotzdem einer Trennung näher brachte als irgend etwas sonst in ihrer Ehe. Wie typisch für sie – selbst als sie den heftigsten Streit ihres Lebens hatten, wußten sie nicht, was sie wollten.
Drei Nächte später, nach ein paar rückversichernden Anrufen bei der pseudowissenschaftlichen Organisation, die für die Durchführung der Studie bezahlt wurde – das ist nicht übertrieben oder beleidigend gemeint, da es schon damals nur noch wenige Universitäten gab, die nicht ihre Seele an irgendwelche Sponsoren aus der Wirtschaft verkauft hatten –, waren meine Eltern davon überzeugt, daß alles nur zu unserem Besten wäre. Ich denke, in ihrer welt- und menschenfremden Art hatten sie sogar angefangen zu glauben, daß bei der Sache irgend etwas Wichtiges für mich persönlich herauskommen könnte, mehr als nur einfach Geld für die Familie, daß bei dem Test irgendein verborgenes Talent von mir ans Licht kommen und ich mich als ein noch außergewöhnlicheres Kind erweisen würde, als ich es in ihren Augen ohnehin war.
In einer Hinsicht hatten sie recht – die Sache veränderte mein Leben für alle Zeit.
Ich erinnere mich, wie meine Mutter in mein Zimmer kam. Ich war früh mit einem Buch ins Bett gegangen, weil mich das seltsame, geradezu … somnambule, das ist das Wort – das somnambule Geplapper der beiden an den Tagen davor nervös gemacht hatte, und ich schaute schuldbewußt auf, als sie hereinkam, als ob sie mich bei etwas Verbotenem ertappt hätte. Der Farbverdünnergeruch des Haschisch hing in ihrem abgetragenen Pullover. Sie war ein wenig bekifft, wie oft um diese Abendzeit, und während sie daran herumkaute, wie sie mir die Neuigkeit beibringen sollte, machte mir ihre dumpfe Unartikuliertheit einen Moment lang richtig Angst. Sie wirkte gar nicht wie ein Mensch – eher wie ein Tier oder ein außerirdischer Doppelgänger aus einer der Netzsendungen, die meine ganze Kindheit über im Hintergrund gelaufen waren.
Während sie mir ihre elterliche Entscheidung darlegte, wuchs meine Angst immer mehr. Ich solle nur ein kleines Weilchen allein bleiben, erklärte sie mir, und einigen Leuten bei einem Experiment helfen. Nette Männer und Frauen – Fremde, hieß das in Wirklichkeit – würden sich um mich kümmern. Es würde der Familie helfen und bestimmt interessant werden. Alle anderen Kinder in meiner Schule würden mich beneiden, wenn ich zurückkam.
Wie konnte eine so autistische Frau wie meine Mutter nur auf den Gedanken kommen, daß das bei mir etwas anderes als Schrecken auslösen würde? Ich weinte die ganze Nacht und noch Tage danach. Meine Eltern taten so,
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