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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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weniger absolut gemacht hatten, waren verstummt.
    Nach wenigen Minuten bekam ich es mit der Angst zu tun. Vielleicht hatte ein Raubüberfall stattgefunden, dachte ich, und böse Männer hatten Doktor Beck und die anderen verschleppt. Oder vielleicht war irgendwo ein großes Monster ausgebrochen und hatte sie getötet, und jetzt schnüffelte es auf den Korridoren herum und suchte nach mir. Ich stürzte zu der dicken, schalldichten Tür meines Zimmers, aber da der Strom fort war, waren die Türschlösser natürlich blockiert. Ich konnte nicht einmal die Klappe der abgedunkelten Durchreiche öffnen, durch die ich meine Mahlzeiten bekam. Entsetzt schrie ich nach der Frau Doktor, nach Frau Fürstner, aber niemand kam oder gab Antwort. Die Dunkelheit wurde für mich in einer Art und Weise furchtbar, wie sie es die ganzen Tage vorher nicht gewesen war, ein Ding, dicht und greifbar. Mir war zumute, als würde sie mir den Atem nehmen, mich würgen, bis ich erstickte, bis ich die Schwärze selbst einsaugte und mich damit anfüllte wie eine, die in einem Meer aus Tinte ertrinkt. Und noch immer kam nichts – kein Geräusch, keine Stimmen, eine Stille wie im Grab.
    Ich weiß heute aus den Zeugenaussagen, daß es fast vier Stunden dauerte, bis die Techniker des Instituts das System wieder zum Laufen gebracht hatten. Für die kleine Martine, das Kind, das ich war, vergessen im Dunkeln, hätten es genausogut vier Jahre sein können.
    Nach einer langen Zeit, in der mein Verstand am Rand eines Abgrunds entlangirrte und in Gefahr war, jeden Augenblick in eine Dissoziation zu stürzen, die totaler und vernichtender war als jede bloße Blindheit, gesellte sich etwas zu mir.
    Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, war ich nicht mehr allein. Ich spürte jemanden neben mir, der die Dunkelheit mit mir teilte, aber das verringerte mein Entsetzen keineswegs. Dieser Jemand, wer oder was es auch war, erfüllte die Leere in meinem Quartier mit einer gräßlichen, ganz unbeschreiblichen Einsamkeit. Hörte ich ein Kind weinen? Hörte ich überhaupt etwas? Ich weiß es nicht. Ich weiß heute gar nichts, und damals war ich wahrscheinlich völlig außer mir. Aber ich fühlte etwas kommen und sich neben mich setzen, und ich fühlte es in der bleischweren schwarzen Nacht bitterlich weinen, ein Wesen, das leer und kalt und vollkommen allein war, das Schrecklichste, was mir je widerfahren ist. Ich war taub und starr vor Grauen.
    Und da ging das Licht an.
    Seltsam, was für Kleinigkeiten das Leben bestimmen. Man kommt an eine Kreuzung, wenn die Ampel gerade auf Rot umspringt, muß zuhause noch die vergessene Brieftasche holen und verpaßt das Flugzeug, tritt in den hellen Schein einer Straßenlaterne und erregt dadurch die Aufmerksamkeit eines Fremden – kleine Zufallsbegebenheiten, doch sie können alles verändern. Der Absturz des Institutssystems allein, so einschneidend und unerklärlich er war, hätte nicht gereicht. Aber eines der Infrastruktur-Unterprogramme war fehlerhaft codiert worden – eine Sache von ein paar falsch gesetzten Ziffern –, so daß die drei Wohneinheiten in meinem Flügel bei dem ordnungsgemäßen Startvorgang ausgelassen wurden. Als daher das System wieder anlief und der Strom kam, bekamen unsere drei Wohneinheiten statt des trüben, sich langsam verstärkenden Glühens der Übergangslampen, kaum heller als eine haarfeine Mondsichel in schwarzer Nacht, die volle Tausend-Watt-Nova der Notbeleuchtung ab. Die beiden anderen Zimmer waren leer – eines war seit Wochen nicht benutzt worden, der Insasse des anderen war wenige Tage vorher wegen Windpocken auf die Krankenstation des Instituts gebracht worden. Ich war die einzige, die die Notbeleuchtung angehen sah wie das flammende Auge Gottes. Aber ich sah sie nur einen Augenblick – es war das letzte, was ich im Leben sah.
    Es ist nichts Somatisches, erklären mir die Spezialisten, alle, mehr, als ich zählen kann. So schlimm das Trauma auch war, es dürfte eigentlich nicht permanent sein. Es liegt keine erkennbare Schädigung des Sehnervs vor, und die Tests ergeben, daß ich im Grunde noch ›sehe‹ – daß der Teil meines Gehirns, der visuelle Eindrücke verarbeitet, nach wie vor tätig ist und auf Reize reagiert. Aber natürlich sehe ich nicht, ganz gleich, was irgendwelche Tests behaupten.
    ›Hysterische Blindheit‹ lautet die alte Bezeichnung dafür – anders ausgedrückt, wenn ich wollte, könnte ich sehen. Wenn das stimmt, dann nur in der Theorie. Wenn ich durch bloßes

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