Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Zaghaftigkeit zu verstecken. Trotzdem … ich weiß nicht recht.
Florimel, die ihre Privatsphäre genauso aggressiv verteidigt wie William, macht mir von allen am meisten Kopfzerbrechen. Nach außen hin ist sie ganz bei der Sache und verhält sich schroff, ja fast verächtlich, wenn andere mit persönlichen Bedürfnissen kommen. Aber zu anderen Zeiten scheint sie sich selbst kaum zusammenhalten zu können, obwohl ich bezweifele, daß das außer mir jemand bemerken würde. Es gibt so merkwürdige Schwankungen in ihren … wie sagt man? In ihren Affekten, glaube ich. Es gibt so seltsame subtile Schwankungen in ihren Affekten, daß sie mir manchmal wie eine multiple Persönlichkeit vorkommt. Aber ich habe noch nie von einer multiplen Persönlichkeit gehört, die sich unbedingt als ungespaltene Person darstellen wollte. Soweit ich weiß, nutzen bei Menschen mit echter Bewußtseinsspaltung alle inneren Persönlichkeitsanteile jede Gelegenheit aus, sich in den Vordergrund zu spielen.
Aber meine Fähigkeit zu verstehen, was ich wahrnehme, ist durchaus noch begrenzt, daher kann es sein, daß ich mich irre oder daß ich kleine Merkwürdigkeiten in ihrem Verhalten überinterpretiere. Sie ist stark und tapfer. Sie hat nichts Unrechtes und viel Gutes getan. Ich sollte sie allein danach beurteilen.
Der letzte aus dieser kleinen Schar, von den vielleicht einzigen Überlebenden von Sellars’ verzweifeltem Versuch, das Rätsel Anderland zu lösen – schließlich können wir nur hoffen, daß Renie und die anderen noch am Leben sind –, ist der junge Mann, der sich T4b nennt. Daß er wirklich ein Mann ist, kann ich natürlich auch nur vermuten. Doch es gibt auf jeden Fall Zeiten, in denen mir seine Energien und sein Auftreten eindeutig männlich vorkommen – er hat manchmal eine kaum verhohlene Großspurigkeit, die ich noch nie bei einer Frau erlebt habe. Aber er kann auch in einer eigentümlich weiblichen Weise behutsam sein, weshalb ich vermute, daß er jünger ist, als er vorgibt. Es ist unmöglich, das Alter oder sonst etwas aus seinem Straßendialekt zu schließen, bei dem wenige kurze Worte für eine Vielfalt von Bedeutungen herhalten müssen – es könnte durchaus sein, daß er nicht älter als zehn oder elf ist.
So bin ich also zusammen mit vier wildfremden Leuten an einem gefährlichen Ort, der wohl, daran habe ich eigentlich keinen Zweifel, von noch gefährlicheren Orten umgeben sein dürfte. Unsere Feinde müssen in die Tausende gehen, und sie müssen ungeheuer mächtig und reich sein und die Kontrolle über diese Westentaschenuniversen haben. Wir dagegen sind schon nach wenigen Tagen auf die Hälfte geschrumpft.
Natürlich sind wir zum Scheitern verurteilt. Schon wenn wir die nächste Simulation lebendig erreichten, wäre das ein Wunder. Überall lauern Gefahren. Eine Spinne von der Größe eines Lastwagens hat erst gestern nachmittag nur wenige Meter von mir entfernt eine Fliege gefangen. Ich konnte hören, wie die Vibrationen der Fliege sich veränderten, während ihr das Leben ausgesaugt wurde – eine der grausigsten Erfahrungen, die ich jemals gemacht habe, ob in der Realität oder der Virtualität. Ich habe schreckliche Angst.
Aber von hier an werde ich dieses Journal weiterführen, als ob das nicht der Fall wäre, als glaubte ich, daß ich eines Tages wieder durch mein vertrautes Domizil wandeln und an diese Begebenheiten als etwas Vergangenes zurückdenken könnte, als Teil einer heroischen, aber verblassenden Zeit.
Ich bete zu Gott, daß es so kommen möge.
Jetzt regt sich wirklich jemand. Ich muß gehen und diese seltsame Reise fortsetzen. Ich will dir nicht Lebewohl sagen, mein in die Luft gesprochenes Journal. Ich sage lieber auf Wiedersehen.
Aber ich fürchte, das ist eine Lüge.
Code Delphi. Hier aufhören.«
> Mit ihrer üblichen königlichen Gleichgültigkeit gegenüber allem ohne direkten Jonesbezug putzte sich die Katze auf Dulcy Anwins Schoß. Ihre Herrin war dabei, sich innerlich auf eine Konfrontation vorzubereiten. Wenigstens hatte das erste Glas dieses nicht gerade spitzenmäßigen Tangshan-Rotweins diesem Zweck gedient. Das zweite Glas – na ja, vielleicht hatte das erste sie noch nicht bereit genug gemacht.
Sie wollte nicht. Darauf lief es letzten Endes hinaus, und er würde das begreifen müssen. Sie war eine Spezialistin, hatte über ein Dutzend Jahre lang ihre Fertigkeiten verfeinert, hatte im praktischen Einsatz Dinge gelernt, die sich der normale Gearknacker nicht
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