Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
einmal vorstellen konnte – der jüngste Job in Cartagena war vielleicht der blutigste gewesen, für sie persönlich gewiß, aber keineswegs der extremste oder ausgefallenste –, und es war absurd von ihm zu erwarten, daß sie das alles einfach fallenließ und rund um die Uhr den Babysitter für einen gekidnappten Sim spielte.
Und wie lange? Nach dem Bummeltempo zu urteilen, in dem die ganze Chose lief, konnten diese Leute womöglich ein Jahr durch das Netzwerk irren, sofern ihre Versorgungssysteme das mitmachten. Sie würde sogar den Anschein eines sozialen Lebens aufgeben müssen. Sie hatte jetzt schon seit fast sechs Wochen kein Rendezvous mehr gehabt, hatte seit Monaten keinen Mann mehr vernascht, aber das wäre dann völlig beknackt. Ach was, die ganze Sache war völlig beknackt. Dread würde das verstehen müssen. Er war schließlich nicht einmal ihr Boß. Sie war selbständig – er war nur einer der Leute, für die sie arbeitete, wenn sie es wollte. Sie hatte einen Mann getötet, um Himmels willen. (Bei diesem letzten Gedanken hatte sie einen kurzen Anflug von Beklemmung. Die unwillkürliche Anrufung des Himmels hatte etwas Unheilvolles.) Sie hatte es gewiß nicht nötig, um seine Gunst zu buhlen wie eine kleine junge Aushilfsmaus.
Jones’ zusehends eifriger werdendes Putzen fing an, sie zu stören, und sie beförderte die Katze von ihrem Schoß hinunter. Jones warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu und trollte sich dann behäbig in Richtung Küche.
»Dringlicher Anruf«, verkündete die Stimme vom Wandbildschirm. »Du hast einen dringlichen Anruf.«
»Scheiße.« Dulcy kippte den letzten Schluck Wein hinunter. Sie stopfte sich ihr Hemd in die Hose – sie hatte nicht vor, noch einmal im Bademantel ans Fon zu gehen, damit forderte sie die Mißachtung geradezu heraus – und setzte sich gerade hin. »Annehmen.«
Dreads Gesicht erschien einen Meter hoch auf dem Bildschirm. Sein braune Haut war gründlich gewaschen, sein dickes, widerspenstiges Haar hinten zusammengebunden. Er wirkte auch konzentrierter als beim vorigen Mal, als er die halbe Zeit über irgendeiner inneren Stimme zu lauschen schien.
»’n Abend«, sagte er lächelnd. »Du siehst gut aus.«
»Hör zu.« Sie holte kaum Atem – es hatte keinen Zweck, um den Brei herumzureden. »Ich will’s nicht machen. Nicht die ganze Zeit. Ich weiß, was du sagen wirst, und es ist mir völlig klar, daß du jede Menge wichtiger Dinge zu tun hast, aber deswegen kannst du mich trotzdem nicht zwingen, die ganze Sache zu übernehmen. Es ist keine Frage des Geldes. Du warst außerordentlich großzügig. Aber ich will das nicht rund um die Uhr machen – es ist so schon hart genug. Und ich werde zwar nie irgend jemand ein Sterbenswörtchen davon erzählen, egal was passiert, aber wenn du darauf bestehst, muß ich aufhören.« Sie holte tief Luft. Die Miene ihres Auftraggebers blieb so gut wie unbewegt. Dann verzog sich sein Gesicht wieder zu einem Lächeln, einem ziemlich merkwürdigen; seine Mundwinkel zuckten nach oben, so daß die Lippen einen großen Bogen beschrieben, ohne sich zu teilen. Seine breiten weißen Zähne blieben unsichtbar.
»Dulcy, Dulcy«, sagte er schließlich und schüttelte mit gespielter Enttäuschung den Kopf. »Ich habe dich angerufen, um dir mitzuteilen, daß ich nicht will, daß du den Sim voll übernimmst.«
»Nicht?«
»Nein. Ich habe drüber nachgedacht, was du sagtest, und es leuchtet mir ein. Wir riskieren mit dem Wechsel eher, Aufmerksamkeit zu erregen. Die blinde Frau hat vermutlich längst entschieden, daß das Datenmuster, das wir durch unsere Arbeitsteilung darstellen, einfach für unsern Sim normal ist.«
»Das heißt … das heißt, daß wir uns die Arbeit auch weiterhin teilen?« Sie haschte nach einem Halt, um ihr emotionales Gleichgewicht wiederzufinden – sie hatte sich in Erwartung eines Streits innerlich so weit aus dem Fenster gelehnt, daß sie in Gefahr war, hinauszufallen. »Aber wie lange? Einfach zeitlich unbegrenzt?«
»Bis auf weiteres.« Dreads Augen leuchteten sehr hell. »Wir werden sehen, was langfristig passiert. Allerdings wird es wohl nötig sein, daß du einen etwas größeren Anteil der Simzeit übernimmst als bisher, vor allem in den nächsten paar Tagen. Der Alte Mann hat mich auf was angesetzt, und ich muß ihm Antworten auftischen, ihn bei Laune halten.« Wieder das Lächeln, aber leiser und verstohlener. »Aber ich werde den Sim dennoch in einem einigermaßen festen Turnus führen. Ich
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