Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
richtige Geist. Ich muß davon ausgehen, daß ich diese Gedanken eines Tages selbst wieder in Besitz nehmen werde. In dem Fall werde ich wissen wollen, wie ich mich zu dem betreffenden Zeitpunkt fühlte.
Über das Eindringen in dieses Netzwerk kann ich nicht viel sagen, weil ich mich an so wenig erinnere. Das Sicherheitssystem, oder was es sonst war, scheint mir von der Art her ähnlich zu sein wie das Programm, das Kinder fängt, das Tiefenhypnosegear, das Renie nach ihrer Erfahrung in dem virtuellen Nachtclub so grauenerregend beschrieb. Es operiert offenbar auf der Ebene des Unterbewußtseins und hat unwillkürliche physische Auswirkungen. Aber ich erinnere mich nur an den Eindruck von etwas Wütendem und Bösartigem. Es ist zweifellos ein Programm oder neuronales Netz, dessen Differenziertheit und Leistungsstärke alles in den Schatten stellt, was mir geläufig ist.
Aber seitdem ich in das Netzwerk eingetreten bin, habe ich allmählich durch den gräßlichen, zerrüttenden Tumult hindurch, den realen wie den metaphorischen, zu einer inneren Festigkeit zurückgefunden, die ich schon ein für allemal verloren glaubte. Und ich kann Sachen machen, zu denen ich vorher nicht in der Lage war. Ich bin jenseits des Chaos in einen völlig neuen Bereich sinnlicher Wahrnehmung eingedrungen, ähnlich wie Siegfried, als er im Blut des Drachen badete. Ich kann ein Blatt fallen, das Gras wachsen hören. Ich kann einen Wassertropfen riechen, der auf einem Blatt zittert. Ich kann sogar den komplizierten, halb spontanen Tanz des Wetters fühlen und erraten, welche Richtung es als nächstes einschlagen wird. Irgendwie ist das alles ziemlich verführerisch – wie ein junger Adler, der auf einem Ast hockt und sich zum erstenmal den Wind unter die gespreizten Flügel wehen läßt, habe ich das Gefühl grenzenloser Möglichkeiten. Es wird mir schwer werden, das wieder aufzugeben, aber natürlich bete ich, daß wir Erfolg haben und daß ich dann überhaupt noch lebe. Ich denke, in dem Fall würde ich das alles mit Freuden aufgeben, aber richtig vorstellen kann ich es mir nicht.
Im Grunde ist es fast unmöglich, an einen erfolgreichen Ausgang zu glauben. Vier aus unserer Schar sind uns bereits entrissen worden. Wir können nicht in Erfahrung bringen, wo Renie und !Xabbu sich aufhalten, und mein Gefühl, daß sie hier sind, in dieser Insektenwelt, ist deutlich schwächer geworden. Orlando und seinen jungen Freund hat es den Fluß hinuntergespült. Ich zweifele nicht daran, daß wenigstens die Jungen in eine der zahllosen anderen Simulationen durchgekommen sind.
Somit sind wir jetzt zu fünft. Die Verschollenen sind vielleicht die vier, deren Gesellschaft mir lieber gewesen wäre – besonders Renie Sulaweyo ist mir trotz ihrer Kratzbürstigkeit fast zur Freundin geworden, und ich stelle fest, daß sie mir sehr fehlt –, aber um gerecht zu sein, liegt das vielleicht nur daran, daß ich die anderen vier noch nicht so gut kenne. Aber sie sind eine merkwürdige Gruppe, gerade im Unterschied zur Offenheit von !Xabbu und Renie, und mir ist nicht ganz wohl mit ihnen.
Sweet William ist die stärkste Persönlichkeit, aber ich möchte gern das älteste aller Klischees glauben, nämlich daß sich hinter seiner grimmigen Ironie ein gutes Herz verbirgt. Als wir zum Strand zurückkehrten und ihn und T4b dort antrafen, war William auf jeden Fall völlig verzweifelt darüber, daß Orlando und Fredericks vom Fluß weggeschwemmt worden waren. Für meine neue und mir bis jetzt noch nicht ganz klare Wahrnehmung fühlt er sich eigentümlich unvollständig an. Zeitweise hat er trotz seiner kecken Art etwas Zögerndes an sich, wie jemand, der Angst davor hat, entdeckt zu werden. Ich frage mich, was sich hinter seiner Weigerung verbirgt, über sein wirkliches Leben zu sprechen.
Die alte Frau, Quan Li, macht einen weniger komplizierten Eindruck, aber vielleicht will sie nur so erscheinen. Sie ist betulich und still, aber sie hat ein paar erstaunlich gute Vorschläge gemacht, und unter ihrer höflichen Fassade ist sie bestimmt stärker, als sie tut. Als im Laufe des Nachmittags sogar die hartgesottene Florimel die Suche nach Renie und !Xabbu aufstecken wollte, mobilisierte Quan Li mehrmals alle Kräfte, um weiterzumachen, und wir konnten es ihr nur beschämt nachtun. Interpretiere ich da zuviel hinein? Es ist nicht verwunderlich, daß eine aus ihrer Kultur und ihrer Generation es immer noch für nötig erachtet, ihre Fähigkeiten hinter einer Maske der
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