Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
wahrnehmen. So funktioniert das bei einem neuronalen Shunt. Hast du vielleicht was Besseres?«
»Es ist nicht besser. Eigentlich ist es schlechter.« Wider Willen mußte Renie grinsen. »Meine Anlage ist alt – du würdest nicht im Traum dran denken, so ein Ding zu benutzen. Und weil es simpel ist, kann ich es einfach absetzen.«
Mit einem finsteren Blick sagte William: »Na, heidewitzka, Frau Kapitän.« Renie hatte keine Ahnung, was er damit sagen wollte. »Und was soll das uns übrigen nützen?«
»Ich könnte offline gehen! Ich könnte Hilfe holen!«
»Was macht dich so sicher, daß dir der Folterkammereffekt nicht genauso passieren würde?« fragte William.
»Laß sie, äi«, knurrte T4b. »Laß sie machen. Bloß raus aus diesem Cräsh, mehr will ich nicht.«
»Mein Interface ist nicht an mein Nervensystem angeschlossen wie deines.« Sie führte die Hand ans Gesicht und tastete nach den beruhigenden, wenn auch unsichtbaren Konturen ihrer Maske, die sie in den vergangenen Tagen viele Male liebevoll befühlt hatte. Diesmal jedoch berührten ihre Finger nichts als Haut.
»Und dieser Bruder, von dem du ständig redest«, sagte Florimel. »War denn sein Nervensystem direkt mit einem Interface verbunden? Vermutlich nicht.«
»Renie?« erkundigte sich Quan Li. »Du siehst ganz unglücklich aus. Wäre es dir lieber, wenn wir nicht über deinen armen Bruder reden würden?«
»Ich kann sie nicht mehr fühlen.« Der dämmerige Abendhimmel schien sich zentnerschwer auf sie zu legen. Sie war der aberwitzigsten Situation, die man sich vorstellen konnte, völlig schutzlos ausgesetzt. »Lieber Gott, ich kann meine Maske nicht mehr fühlen. Sie ist weg.«
> Eine Weile lang hatte er dem Gespräch folgen können, doch bald sank Orlando wieder ab, und die murmelnden Stimmen seiner Gefährten wurden genau wie die kleinen Wellen, die an ihr merkwürdiges Transportmittel klatschten, zu leerem Schall.
Er fühlte sich gewichtslos und dennoch eigentümlich schwer. Er lag regungslos neben Fredericks ausgestreckt, aber gleichzeitig bewegte er sich irgendwie, glitt durch den Zellstoff des Blattes hindurch, in das blutwarm ringsherum aufsteigende Wasser. Er sank in die Tiefe. Und wie schon vor nicht allzu langer Zeit, als er mit Fredericks am Floß gehangen hatte, stellte er fest, daß es ihm egal war.
In dieser Vision, dieser Trance, war die Wasserwelt ganz aus Licht, aber aus einem Licht, das vom Wasser selbst gezerrt und gekrümmt und gespalten wurde, so daß er sich durch das Herz eines riesigen, unreinen Edelsteins zu bewegen schien. Er sank in dem trüben Fluß immer tiefer, und auf einmal schlängelten sich merkwürdige schimmernde Gestalten an ihm vorbei, Wesen, die aus sich heraus heller leuchteten als die gebrochenen Strahlen der Sonne. Sie schienen ihn nicht zu bemerken, sondern verfolgten unbeirrt ihre offenbar zufälligen Zickzackbahnen, wobei sie auf seiner Netzhaut ein glühendes Nachbild hinterließen, ähnlich den Bahnspuren von Teilchen, die in einer Blasenkammer sichtbar wurden.
Es waren jedoch keine Fische. Sie waren Licht – reines Licht.
Ich träume schon wieder. Der Gedanke kam ihm ganz allmählich, als löste sich ihm gerade das zentrale Rätsel eines Kriminalromans auf, der ihn nicht mehr interessierte. Ich ertrinke nicht, ich träume.
Je tiefer er sank, tiefer und tiefer, um so schwächer wurde das Licht und um so stärker der Druck. Er überlegte, ob so wohl eines schönen Tages der Tod sein würde, ein sachtes, hilfloses Untergehen. Vielleicht starb er ja diesmal wirklich – es fiel ihm auf jeden Fall schwer, diesem ganzen Leben, Leben, Leben etwas abzugewinnen, auf das alle anderen anscheinend so versessen waren. Vielleicht brauchte man vor dem Ende gar keine Angst zu haben. Er hoffte, das stimmte, doch andererseits hatte er sich so lange mit dem Tod beschäftigt und versucht, jede seiner Erscheinungsformen kennenzulernen, um darauf vorbereitet zu sein, wenn es schließlich soweit war, daß er dieser Hoffnung nicht ganz trauen konnte.
Der Tod wartete schon so lange auf ihn, wie er zurückdenken konnte – nicht der fernliegende Tod der meisten Leute, ein trauriger, aber notwendiger Termin, den man eines Tages würde machen müssen, wenn das Leben sich halbwegs erfüllt hatte und alles Wichtige geregelt war, sondern ein höchst gegenwärtiger Tod, geduldig und hartnäckig wie ein Eintreiber fälliger Außenstände, ein Tod, der jeden Tag vor seiner Tür stand und auf den einen
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