Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
brauchen? Wahrscheinlich sind wir vorher alle verhungert.«
»Wir müssen nicht essen, oder?« Renie sah sich um; die Simgesichter waren auf einmal ernst. »Seid ihr denn nicht alle … habt ihr nicht alle dafür vorgesorgt? Wie könntet ihr so lange online sein, wenn ihr nicht irgendein System hättet, das euch ernährt?«
»Ich werde wahrscheinlich intravenös ernährt.« Fredericks hörte sich plötzlich mutlos und elend an. »Da im Krankenhaus.«
Eine rasche Umfrage ergab, daß Sweet Williams Sorge weitgehend gegenstandslos war. Alle Anwesenden gaben an, ein Versorgungssystem zu haben, das sie in jeder Hinsicht unabhängig machte. Sogar William lüftete seinen Glitzer- und Glamourvorhang kurz mit der Bemerkung: »Eine Woche oder so komm ich wahrscheinlich klar, verehrte Freunde, aber dann muß ich hoffen, daß jemand kommt und nach mir schaut.« Ansonsten jedoch schwiegen sich alle über ihr Offline-Leben aus, was Renies Erbitterung neu entfachte.
»Hört mal her, für uns geht’s hier um Leben und Tod«, sagte sie schließlich. »Jeder von uns muß gewichtige Gründe haben, hier zu sein. Wir müssen einander vertrauen.«
»Nimm’s nicht persönlich«, entgegnete William und schnitt eine Grimasse. »Aber für ein allgemeines ›Heididei, wir erzählen uns unsere Geschichte‹ hab ich nicht das geringste übrig. Ich bin nicht verpflichtet, irgendwem Auskünfte zu geben. Warum sollte ich Leuten mein Leben erzählen, die ich gar nicht kenne?«
»Was willst du denn wissen?« meldete sich Florimel. Ihr temilúnischer Sim gab mürrischen Unwillen sehr lebensecht wieder. »Wir sind doch alle, wie wir hier stehen, Kranke und Leidende, Frau Sulaweyo. Du, er, ich, wir alle. Warum hätte dieser Sellars uns sonst ausgesucht – und warum, meinst du, haben wir uns alle auf eine lange Zeit online eingerichtet? Wer sonst würde soviel Zeit im Netz verbringen?«
»Sprich für dich selber«, giftete William. »Ich habe ein Leben, und ein Weltrettungsprogramm hat jedenfalls keinen Platz darin. Ich will nichts weiter als hier raus und nach Hause.«
»Ich war nicht darauf eingerichtet«, sagte Fredericks bekümmert. »Deshalb haben mich meine Eltern auch ins Krankenhaus gebracht. Orlando hat auch nicht mit sowas gerechnet. Wir sind hier mehr oder weniger zufällig reingeschliddert.« Er wurde nachdenklich. »Wo mag er wohl sein – sein Körper, meine ich?«
Renie schloß die Augen und gab sich Mühe, ruhig zu bleiben. Sie wünschte, !Xabbu würde den Blattrand verlassen und sich dazusetzen, aber er betrachtete weiter den vorbeigleitenden Uferstreifen. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns zu streiten«, erklärte sie schließlich. »Fredericks, du sagtest, du hättest versucht, offline zu gehen, und es wäre sehr schmerzhaft gewesen.«
Der junge Mann nickte nachdrücklich. »Es war grauenhaft. Einfach grauenhaft. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm es war.« Schaudernd kreuzte er die Arme über der Brust und umschlang sich.
»Konntest du mit jemandem kommunizieren, Fredericks? Hast du mit deinen Eltern geredet?«
»Sag doch bitte Sam zu mir.«
»Sam. Konntest du reden?«
Er dachte nach. »Ich glaube nicht. Das heißt, ich hab geschrien, aber eigentlich konnte ich mich gar nicht selbst hören, wenn ich jetzt drüber nachdenke. Nicht solange ich … dort war. Es tat so furchtbar weh! Ich glaube nicht, daß ich ein Wort hätte sagen können – du weißt nicht, wie schlimm es war…«
»Ich weiß es«, sagte Florimel, doch es lag wenig Mitgefühl in ihrer Stimme. »Ich bin auch offline gegangen.«
»Tatsächlich? Was war dann?« fragte Renie. »Hast du eine Möglichkeit gefunden, es selber zu tun?«
»Nein. Ich wurde … herausgeholt, genau wie er.« Sie klang ganz sachlich. »Es geschah, bevor ich Temilún erreichte. Aber er hat recht. Der Schmerz war unbeschreiblich. Selbst wenn es sich irgendwie machen ließe, würde ich mich eher umbringen, als noch einmal diesen Schmerz auszuhalten.«
Renie setzte sich zurück und seufzte. Die mächtige orangerote Scheibe der Sonne war kurz vorher hinter dem Wald versunken, und jetzt frischte der Wind auf. Ein großer Insektenschatten flog über ihnen Zickzack. »Aber wie soll das angehen, daß ihr eure Neurokanülen nicht findet? Gut, ihr könnt sie nicht sehen, aber fühlen müßt ihr sie doch können?«
»Sei nicht naiv, Werteste«, sagte William. »Die von unsern Finger ans Gehirn gehende Information ist nicht realer als das, was wir durch Augen und Ohren
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