Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
unachtsamen Moment wartete, in dem er seinen Knochenfuß über die Schwelle setzen konnte …
Ein Schatten unterbrach Orlando in seinen Untergangsphantasien, und an seinem jähen ängstlichen Verkrampfen bei dieser Erscheinung merkte er, daß er sich durchaus noch nicht mit dem kalten Griff des Todes, ob erwartet oder nicht, abgefunden hatte. Aber wenn das der Tod war, der ihn jetzt endlich holen kam, eine dunkle Silhouette tief unten im Wasser, dann war er in Gestalt eines … eines Hummers erschienen oder eines Krebses oder sonst eines vielbeinigen Wesens. Ja, wie es aussah, war der Schatten …
… ein Käfer?
Orlando. Boß, ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Ich versuch’s immerzu, aber langsam wird die Zeit knapp. Wenn die mich kriegen, bin ich gewesen.
In dem schwachen Schimmer, der von einem Kreis Stielaugen ausging, konnte er das Wesen langsam mit seinen Gliederbeinen wedeln sehen. Er versuchte zu sprechen, doch es ging nicht. Das Wasser drückte mit dem Gewicht einer Riesenhand auf seine Brust.
Hör zu, Boß, letztes Mal hast du was von »Atasco« zu mir gesagt – glaub ich jedenfalls, denn es war unter der Hörschwelle. Ich hab’s dreißigmal zurücklaufen lassen, alle Analysen gemacht, die mir einfielen. Aber ich weiß nicht, was es bedeutet, Boß. Die Netze haben einen Haufen Zeug über jemand mit dem Namen gebracht, Tonnen von Zeug. Er wurde in Südamerika umgebracht. Meinst du den? Du mußt mir mehr Informationen geben, Boß.
Orlando spürte, wie sich ein leises Interesse in ihm regte, aber es war nur ein Zucken unter einer unendlich schweren Decke. Was wollte dieses vielbeinige Ding von ihm? Wo er gerade dabei war, friedlich zu versinken.
Das krebsartige Wesen krabbelte auf seine Brust. Er fühlte seine stumpfen Füße nur ganz leicht, so wie die Märchenprinzessin im Unterbewußtsein die schlafstörende Erbse gespürt haben mußte. Er wollte es abschütteln, die bleierne Ruhe wiederhaben, doch das Wesen ging nicht weg.
Deine Eltern wollen mich abschalten, Boß. Das Haussystem werden sie nicht abdrehen, weil sie sich nicht trauen, dich nochmal von der Leitung zu nehmen, nachdem deine Lebenszeichen das letzte Mal voll in den Keller gesackt sind, aber mich wollen sie ausstöpseln. Ich mußte meinen äußeren Körper in deinen Koffer schmuggeln, Boß, aber es ist nur ’ne Frage der Zeit, bis jemand hier im Krankenhaus mich entdeckt.
Orlando versuchte abermals zu sprechen. Er spürte, wie in seiner Kehle unhörbare Laute entstanden und erstarben.
Ich kann mich einem Abschaltbefehl nur widersetzen, wenn du es mir sagst, Boß. Ich bin bloß eine PsKI, ein Agent – deine Eltern haben die Vollmacht, solange du mir keine andern Anweisungen gibst, aber ich kriege dich online überhaupt nicht rein. Wo bist du?
Die Anstrengung, sich gegen den Zug nach unten zu wehren, war zuviel. Orlando fühlte, wie eine große Lethargie ihn durchströmte, eine warme, zwingende Schwere. Die Stimme des Krebswesens wurde leiser.
Boß, hör zu. Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht hilfst. Du mußt mir sagen, daß ich mich retten soll, oder ich kann’s nicht machen – dann drezzen sie mich. Wenn du es mir sagst, kann ich meinen ganzen Kram rausziehen und mich irgendwo im System verstecken, vielleicht sogar in ein anderes System wechseln. Aber du mußt es mir sagen, Boß…
Er wünschte niemandem etwas Böses, nicht einmal einem Käfer. »Sei’s drum«, murmelte er. »Rette dich…«
Die Stimme war fort, aber etwas von ihrer Dringlichkeit wirkte noch nach. Orlando fragte sich, was um alles in der Welt so wichtig gewesen sein mochte. Beim Nachdenken merkte er, wie er immer weiter nach unten abglitt. Dunkel und verschlingend lag der Abgrund unter ihm, wartete. Das Licht war nur noch ein trüber Schimmer ganz weit oben, der wie ein sterbender Stern mit jedem Moment abnahm.
> Renie war dermaßen entsetzt und erschüttert, daß sie kaum verstand, was die anderen sagten. Die ganze traumartige Erfahrung hatte urplötzlich eine Wendung in eine noch bedrohlichere Irrealität genommen.
»Na na, meine Gute, jetzt guck nicht so verdattert aus der Wäsche.« Sweet William zog seine knochigen Schultern hoch, so daß er mit seinen zitternden Federn mehr denn je wie ein grotesker Urwaldvogel aussah. »Es ist eine Art Selbsthypnose oder sowas.«
»Was meinst du damit?« fragte Quan Li. Die alte Frau hatte einen Arm um Renies Schultern gelegt, als der eben so unerwartet die Tränen gekommen waren.
Ich
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