Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
eine codierte Inszenierung. Dennoch waren ihm die Leute vom Menschenstamm, einerlei, was sie in Wahrheit waren, höchst real vorgekommen, ja wenn sie Replikanten waren, dann jedenfalls absolut selbstgenügsame, die völlig mit ihrer eigenen Scheinwelt, mit ihren Ängsten und Siegen und Bräuchen beschäftigt waren. Vielleicht, sinnierte er, brauchten selbst imaginäre Menschen einfach so etwas wie eine eigene Geschichte, einen Mythos, der ihrem Leben einen Sinn gab.
Aber wenn es alles Code gewesen war, leere Vorspiegelung, was war dann mit der Frau, die durch das kranke Neandertalerkind zu ihm gesprochen hatte? Mit der geflügelten Frau, die ihn im Traum besuchte? Sie hatte ihn gebeten, sie zu finden …
Es war zuviel, um es auf einmal völlig begreifen zu können.
»Wenn diese Leute so mächtig sind«, fragte er, »was wollen dann du und deine Freunde in diesem Kreis dagegen unternehmen? Und was stört euch überhaupt daran, daß ein Haufen reicher Schweine in ihrem VR-Netzwerk Privatorgien feiern?«
»Wenn es nur das wäre, Paul Jonas.« Nandi zog das triefende Paddel aus dem Wasser und sah ihm direkt ins Gesicht. »Ich kann dir darauf keine erschöpfende Antwort geben, aber du mußt mir glauben, wenn ich dir sage, daß sie meiner Überzeugung nach mit ihrem Treiben eine Bedrohung für die ganze Menschheit darstellen. Und selbst wenn du daran zweifelst, ist es eine Tatsache, daß sie viele Menschen verletzt und getötet haben, um dieses Konstrukt zu bauen, dieses … Theater der Maya. Und sie werden noch viel mehr töten, um es so lange wie nötig geheimzuhalten. Ja, nach dem, was du mir erzählt hast, wollen sie dich ebenfalls töten – oder dir vielleicht noch etwas Schlimmeres antun.«
Er bekam erneut vor Angst eine Gänsehaut und mußte sich zusammennehmen, um nicht über die Ungerechtigkeit laut aufzuschreien. Was hatte er diesen Leuten getan? Er beherrschte sich. »Du hast mir nicht gesagt, was du zu tun gedenkst.«
»Das kann ich auch nicht«, entgegnete Nandi. »Und nicht nur aus Geheimhaltungsgründen. Du hast genug Probleme, Paul. Du mußt dich nicht damit belasten zu wissen, was wir wissen. Eine Sache weniger, die sie versuchen werden, aus dir herauszuquetschen, falls sie dich jemals fangen sollten.«
»Du redest, als ob das ein Krieg wäre.«
Diesmal lächelte Nandi nicht. »Es ist ein Krieg.« Nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: »Doch obwohl sie sich für Götter halten, sind sie nichts weiter als Menschen. Sie machen Fehler. Sie haben bereits welche gemacht, und sie werden weitere machen, ganz gleich, wie viele Formen sie annehmen, ganz gleich, wie viele Leben sie sich hier zurechtbasteln. Es ist, wie Krischna zu Ardschuna sagte: ›Dem Geborenen ist der Tod, dem Toten die Geburt bestimmt, über dies Unvermeidliche darfst du nicht klagen. Die Leiber sind vergänglich, nur der sie bewohnt ist unzerstörbar und unbegrenzt. Er tötet nicht, noch wird er getötet.‹ Dies ist eine zentrale Wahrheit der Welt, Paul. Wovon Krischna sprach, das könnte man vielleicht die Seele oder das Selbst nennen. Und bei ihrem Versuch, die Götter nachzuäffen, bekommen es diese Gralsverbrecher unweigerlich mit einer Abart dieser selben großen Wahrheit zu tun, einem Abglanz ihres strahlenden Lichtes sozusagen. Sie können nämlich das, was sie sind, nicht abschütteln, einerlei wie viele Male sie ihre Haut wechseln.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nimm diesen Mann, unseren obersten Feind. Du bist in vielen seiner Simulationen gewesen, in den Traumwelten, die er sich angelegt hat. Was haben sie alle gemeinsam?«
Paul hatte vor nicht allzu langer Zeit eine ähnliche Überlegung angestellt, und er durchforschte sein Gedächtnis danach. »Sie … sie sind sehr alt, scheint es. Die Ideen, meine ich.«
»Genau.« Der Wagenlenker war mit seinem Ardschuna zufrieden. »Das kommt daher, daß er ein alter Mann ist und sich nach Dingen aus seiner Jugendzeit zurücksehnt. Warte, ich werde dir etwas erzählen. Er wurde in Frankreich geboren, dieser Mann, dessen Namen ich nicht aussprechen will, kam aber während des Großen Krieges auf eine Schule in England, weil seine Eltern ihn vor dem schrecklichen Gemetzel in Frankreich in Sicherheit bringen wollten. Er war in dem fremden Land ein einsames Kind, das sich alle Mühe gab, wie die andern zu sein, und deshalb sind ihm von seiner Kindheit die ganzen Versatzstücke englischer Kultur im Gedächtnis geblieben, die er sich so krampfhaft anzueignen versuchte –
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