Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Gedicht heißt. Aber warte nur. Du wirst es gleich sehen.«
»S-sehen?« Seine Zähne klapperten, und nicht nur vor Angst. Die sommerliche Hitze draußen drang nicht bis hierher. Im Gegenteil, es war schrecklich kalt. »W-wie denn?«
Hinter ihm ertönte ein feuchtes, schabendes Geräusch, dann ging ein Licht in der Leere an. Nandi hatte eine Laterne entdeckt und sie angezündet, und jetzt hängte er sie an den hohen, geschwungenen Bug des Bootes, von wo aus sie ihren weichen Glanz verbreitete.
»Oh«, sagte Paul. »Oh …«
Der schwarze Fluß war hier wieder breiter, so daß beide Ufer einen Pfeilschuß von ihnen entfernt lagen, und bis auf die auslaufenden Wellen von dem Wasserfall glatt wie ein samtenes Tischtuch. Ein gewaltiger Tunnel aus Eis, dessen Decke sich fünfzig Meter und mehr über ihren Köpfen wölbte, umschloß den Fluß. Aber es war nicht bloß eine Eishöhle – es war eine kristallene Abstraktion unendlicher Vielfalt.
Mächtige Säulen ragten wie durchsichtige Kerzen vom Boden zur Decke, gebildet aus gefrorenen und im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu gefrorenen Rinnsalen, und hausgroße, diamantartig facettierte Blöcke lagen am Ufer wie von Riesenhänden aufgehäuft. Alles war mit einem Netz von Rauhreif überzogen, einem weißen Gespinst winziger, zarter Linien, wie ein Schleier aus feinsten Spinnenfäden. Glitzernde Eisbrücken überspannten den Fluß, und wo das Eis an den Tunnelwänden abgesprungen war, stürzten jetzt steile, glatte Bruchflächen bis an den Rand des Wassers ab. Direkt vor Pauls und Nandis Augen löste sich ein kleines Stück von einer der Wände, rollte langsam die Uferschräge hinunter und klatschte in den Alph; erst als sie näher kamen, erkannte Paul, daß der in der Nähe des gefrorenen Ufers wippende Brocken ungefähr halb so groß war wie das Haus in Islington, in dem er seine Wohnung hatte.
»Das … das a-alles ist g-großartig«, sagte er.
Nandi hörte das Zittern in seiner Stimme. »Unter der Bank liegen Decken, glaube ich.«
Paul fand zwei Stück, herrlich weich und samtglänzend und bestickt mit Fabeltieren, die auf Musikinstrumenten spielten. Er bot Nandi eine an, aber der schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin weitgehend unempfindlich gegen Kälte und Hitze«, sagte Nandi. »Dort, wo ich zuletzt lebte, hatte ich Gelegenheit, mich an die Elemente zu gewöhnen.«
»Ich weiß das Kublai-Khan-Gedicht nicht mehr auswendig«, gestand Paul. »Wohin führen diese Höhlen?«
»Sie gehen endlos weiter. Aber der Fluß durchquert sie und ergießt sich ins Meer. Und lange davor werden wir durch das Gateway gefahren sein.«
»Ich verstehe nicht, wie das alles funktioniert.« Seine Aufmerksamkeit wurde kurz abgelenkt, als ein Eisblock von der Größe eines Londoner Hovercabs von der Decke abbrach und hundert Meter vor ihnen laut und hoch aufspritzend in den Fluß fiel. Wenige Sekunden später brachten die Wellen ihr kleines Gefährt zum Schaukeln. »Diese Gateways – warum sind sie im Wasser?«
»Es ist wohl metaphorisch gemeint. Es gibt natürlich noch andere Gateways. In den meisten Simulationen gibt es Dutzende, allerdings versteckt – nur wer sich mit Erlaubnis der Besitzer darin aufhält, erhält die Tools zur Auffindung der Gateways. Aber die Leute, die dieses gigantische Netzwerk gebaut haben, wollten eine alles verbindende Gemeinsamkeit haben, und deshalb fließt durch sämtliche Simulationen der Fluß.«
»Welcher Fluß?«
»Er ist überall anders – manchmal ist er auch gar kein Fluß, sondern Teil eines Ozeans oder ein Kanal oder etwas Ausgefalleneres wie ein Lavastrom oder ein mehrere Meilen breiter Quecksilberstrom. Aber er ist immer ein Teil des großen Flusses. Ich nehme an, wenn man genug Zeit hätte – die müßte allerdings länger als das Leben unseres Erzfeindes sein –, könnte man den gesamten Fluß abfahren und auf ihm alle Simulationen durchqueren, bis er wie die berühmte Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, einen vollständigen Kreislauf beschrieben hätte und man wieder am Ausgangspunkt angekommen wäre.«
»Das heißt, es gibt immer einen Durchgang auf dem Fluß, in jeder Simulation.« In die Decke eingemummelt fühlte Paul sich schon wohler, und jedes Stück Information war wie Nahrung für einen Verhungernden.
»Mindestens zwei – an jedem Ende des Flußlaufs durch die betreffende simulierte Welt einen.«
»Aber es gibt auch andere – wie der in dem Labyrinth in Hampton Court, durch den du mich
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