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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Lewis Carroll, H.G. Wells, die Bildergeschichten über Reisen zu andern Planeten…«
    »Moment mal.« Paul beugte sich vor. »Willst du mir etwa erzählen, daß dieser Mann noch den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat?«
    Nandi amüsierte sich. »Durchaus, aber ich spreche vom Ersten Weltkrieg.«
    »Aber dann wäre er ja … Das gibt’s nicht. So alt ist niemand.«
    »Er schon.« Das milde Schmunzeln verging. »Er hat die Erhaltung seines Lebens zu einem Gegenstand religiöser Verehrung gemacht und seine Erinnerungen zu den Mythen dieser Religion erhoben. Aber in Wahrheit kann er sie mit niemandem teilen – an die Kindheit, deren Schreine diese virtuellen Welten sind, erinnert sich außer ihm kein lebender Mensch auf Erden. Wenn er nicht so grenzenlos böse wäre, könnte einem der Mann fast leid tun.«
    Das Boot sackte urplötzlich unter ihnen ab, und Paul mußte aus seinen Gedanken aufwachen und sich auf dem Sitz festklammern, um nicht über Bord geschleudert zu werden, als der kleine Nachen aufs Wasser klatschte.
    »Der Fluß ist hier unmittelbar vor den Höhlen gefährlicher«, sagte Nandi, während er wie besessen rückwärts paddelte. »Wir reden lieber weiter, wenn wir in sichererem Gewässer sind.«
    »Was für Höhlen …?« fragte Paul und schrie dann erschrocken auf, als das Boot abermals abkippte, zwischen zwei Felsen hindurchschoß und einen weiteren Katarakt hinunterflog.
    Die nächsten Minuten über hielt er sich mit beiden Händen an den Bootswänden fest, während Nandi geschickt an einem Hindernis nach dem anderen vorbeisteuerte und der Fluß immer tiefer in die Kerbe der Schlucht hineinschnitt. Die Felswände stiegen mittlerweile an beiden Seiten so steil in die Höhe, daß nur noch ein schmaler Streifen Himmel zu sehen war und das Licht lediglich das oberste Viertel der einen Wand beschien.
    »Das Lustschloß wird uns entgehen«, rief Nandi über das Getöse des Wassers hinweg. »Es gibt einen Nebenfluß, der vor dem Tor vorbeiführt, aber ich nehme an, du willst nicht verweilen und die Baukunst unseres Feindes bestaunen oder seinen Schergen begegnen.«
    »Was?« Paul konnte nur wenige Worte verstehen.
    »Da!« Nandi deutete nach oben. »Kannst du es sehen?«
    Der Gischtnebel, der Paul vorher schon aufgefallen war, bedeckte jetzt den größten Teil des Flusses vor ihnen und wallte als glitzernde Wolke in die Luft empor. Durch diesen Schleier hindurch erblickte er – einen guten halben Kilometer vor ihnen und zum Teil von den Felsen verborgen – einen Wald weißgoldener Minarette, ähnlich den Türmen des Traumschlosses, das er gesehen hatte, als er den großen Baum hinaufgeklettert war. Es war beinahe unmöglich, die künstlerische Präzisionsarbeit dieses Baus nicht zu bewundern. Wenn das alles das Werk menschlicher Hände war, wie Nandi gesagt hatte, dann waren das in der Tat sehr geschickte Hände gewesen.
    »Wohnen dort oben Menschen?« fragte er. »Ich meine, richtige Menschen?«
    »Einen Moment«, rief sein Begleiter über den Flußlärm hinweg. Sie kamen um eine Biegung, und Paul sah in der Felswand ein weit aufgerissenes schwarzes Maul, in dem der Fluß verschwand. Ihm blieb nur Zeit für einen überraschten wortlosen Schrei, dann ging es wieder schlagartig bergab, und das Boot schoß eine tosende Stromschnelle hinunter in die eisige Finsternis.
    Sekundenlang sah er nichts und konnte sich nur an der Sitzbank anklammern, fest davon überzeugt, daß sie gegen unnachgiebigen Stein knallen oder in der wilden Strömung kentern würden. Das Boot sauste wellenauf und wellenab und schlingerte abrupt von einer Seite zur anderen, und keine von Pauls verzweifelt gebrüllten Fragen wurde beantwortet. Die Schwärze war total, und ihm kam der grauenhafte Gedanke, daß Nandi über Bord gegangen war, daß er allein ins Verderben stürzte.
    Der nächste freie Fall des Bootes schien in Pauls überhitzter Phantasie gute zehn Sekunden zu dauern, aber wahrscheinlich war noch nicht eine vorbei, als es mit einer großen, alles durchnässenden Wasserfontäne aufschlug. Paul krallte sich an den Bootsrand, bis er spürte, daß sie zu guter Letzt in ruhigeres Gewässer kamen. Das Brausen des Wasserfalls hinter ihnen wurde allmählich leiser.
    »Manchmal ist es berauschend, im Fleische zu sein«, sagte Nandis Stimme in der Dunkelheit. »Auch wenn es nur virtuelles Fleisch ist.«
    »Ich … ich fand das nicht so toll«, erwiderte Paul. »W-wo sind wir?«
    »In Höhlen, die kein Mensch ermessen kann, wie es in dem

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