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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Schließlich war sie selbst angeschlagen und erschrocken und verwirrt eine bessere Fliegerin als er.
    Es wurde eine gottvolle Jagd. Wenn sie auf einer geraden Bahn geblieben wäre, hätte sie ihm sogar davonfliegen können, aber im Dunkeln wußte sie nicht genau, wer oder was er war. Wie er sich ausgerechnet hatte, verlegte sie sich auf Ausweichmanöver, indem sie immer wieder Versteckplätze anflog und dann, wenn er sie dort aufgescheucht hatte, zum nächsten sauste. Zeitweise flog er nahe genug, um ihr entsetztes, japsendes Atmen zu hören, und in den Augenblicken fühlte er sich in der Tat als Schattenengel, ein Instrument der kalten Seite des Seins, Erfüller eines Zwecks, den von allen Sterblichen er allein wenigstens teilweise verstehen konnte.
    Das weißhaarige Mädchen ermüdete zusehends, ihre Bewegungen wurden hektischer, aber er schätzte auch, daß sie allmählich in die Nähe des Lagers kamen. Dread hielt seine Erregung seit beinahe einer Stunde schon im Zaum und hatte sich mit diesem langgezogenen Vorspiel in einen Zustand hineingesteigert, den selbst die Musik in seinem Kopf nur annähernd ausmalen konnte. Vor seinen Augen rollten Bilder ab, entstand eine umgekehrte Virtualität, in der seine surrealsten und scheußlichsten Gedanken nach außen auf die formbare Dunkelheit projiziert wurden. Zerbrochene Puppen, Säue, die ihre eigenen Jungen fraßen, Spinnen, die sich in einer Flasche gegenseitig umbrachten, gemetzelte Schafe, Frauenfiguren aus Holz, kleingehackt und schwelend – die inneren Bilder schienen einen Glorienschein um seinen Kopf zu bilden, tanzten vor seinen irren Augen wie ein Schwarm brennender Fliegen.
    Das Hundevolk, die schreienden Männer, die Kinderfresser. Halb erinnerte Geschichten, die ihm seine betrunkene Mutter einst mit lallender Zunge erzählt hatte. Von Gesichtern, die sich veränderten, schmolzen, von Leuten, die sich normal gestellt hatten, aber die zu lange am Lagerfeuer geblieben waren und denen jetzt Fell und Federn und Schuppen auf der Haut wuchsen. Von der Traumzeit, dem Ort, wo das Unwirkliche immer wirklich war, wo Albträume die nackte Wahrheit waren, wo Jäger jede Gestalt annahmen, die sie wollten. Wo der kleine Johnny alles sein konnte, was er wollte, und alle ihn verehren oder schreiend davonlaufen würden. Die Traumzeit.
    Als er sich über dem zusammenbrechenden, weinenden Opfer zu einer Parabel aufschwang, die seine lange aufgeschobene Erfüllung genau abbildete, als er am Scheitelpunkt hing und ansetzte hinabzustoßen, durchzuckte ein blendender Lichtblitz sein Gehirn, eine Idee, für die er in dem Moment keine Worte hatte und die er erst später, in der Ruhe nach dem Mord, ansatzweise formulieren konnte.
    Das ist die Traumzeit, dieses Universum, wo Träume wirklich werden.
    Ich werde in seiner Mitte stehen, und ich werde es verdrehen, und die ganze Schöpfung wird vor mir niederfallen. Ich werde der König des Traums sein. Ich werde die Träumer verschlingen.
    Und während dieser Gedanke in ihm loderte wie ein feuriger Stern, schoß er durch die schwarzen Winde hinab, verbiß sich in dem schaudernden Fleisch und Blut und vertilgte es, heiß wie eine Flamme, kalt wie der Gefrierpunkt, in einem schwarzen Ewigkeitskuß.
     
    Er besaß hinterher gerade noch genug Geistesgegenwart, um den Körper, oder was davon übrig war, an einem Ort zu verstecken, der das Geheimnis nicht preisgeben würde. Er behielt nur ihr Messer, ein tückisches, rasierklingenscharf geschliffenes Stück Obsidian, aber nicht aus Sentimentalität – er war kein Sammler –, sondern aus Instinkt. Ob virtuell oder nicht, es hatte ihn die ganze Zeit schon gestört, daß er keine Klinge zur Hand hatte.
    Er badete unterwegs in einem der Wasserfälle, um die Spuren abzuwaschen und sich von dem beißend kalten Wasser wieder in einen normalitätsähnlichen Zustand versetzen zu lassen, doch als er durch die trocknenden Winde zurückflog, war er immer noch ganz im Bann der vagen, aber überwältigenden Idee, die ihn jetzt erfüllte. Als er die Höhle erreichte, in der seine Begleiter schliefen, hatte er einen kurzen Moment der Unkonzentriertheit und stupste auf dem dunklen Weg zu seinem Schlafplatz eine der schlummernden Gestalten an. Auf das protestierende Gemurmel hin erstarrte er, die Finger krallenartig gekrümmt, bereit zum Kampf auf Leben und Tod – selbst in dieser erfundenen Welt würde dieser Jäger niemandem je ins Netz und in die Falle gehen –, aber die aufgestörte Gestalt wälzte

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