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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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länger durchzuhalten als der Alte Mann. Und gerade jetzt war der Drang so übermächtig …!
    Er stellte die Verbindung zum Otherlandsim wieder her, schaltete Dulcys Schleifencode ab und zog sich den Körper an wie ein Kleidungsstück. Er fühlte den Fels des Höhlenbodens unter seinem Rücken, hörte das Atmen seiner Mitreisenden zu beiden Seiten, gleichmäßig und ruhig. Er hielt sich die Finger vor die Augen und bewegte sie, konnte aber nichts erkennen. Sehr wenig Licht. Das war gut.
    Er stemmte sich vom Boden hoch und wartete, bis er seiner Balance sicher war, bevor er über den direkt neben ihm liegenden Schläfer trat. Zwischen ihm und dem Höhlenausgang lag der Häuptling – wie hieß er nochmal? – und mehrere seiner nächsten Anverwandten. Auch sie schienen tief zu schlafen, aber Dread, der sich so geräuschlos bewegte, wie Gras wuchs, brauchte für die hundert Meter dennoch fast eine Viertelstunde.
    Am Ausgang der Höhle blieb er erst noch eine Weile in ihrem Schutz stehen und ließ seinen Blick umherschweifen, um sich zu vergewissern, daß kein Mitglied eines der anderen Familienverbände auf war und herumwanderte. Der dünne Sichelmond war bereits hinter den hochragenden Bergspitzen verschwunden; die Lagerfeuer waren alle heruntergebrannt, und die Stille hing so schwer über dem Platz, daß er weit weg in der Dunkelheit über dem Luftfluß den Flügelschlag eines Vogel hören konnte. Er begab sich lautlos an den Rand der nächsten Felszinne, dann ließ er sich ins Nichts fallen und zählte während des beängstigenden Sturzes in die Tiefe bis zwanzig, bevor er die Arme ausbreitete und spürte, wie die Luft ihn trug.
    Glockenspiel, dachte er. Ich will Glockenspielmusik. Und fließendes Wasser.
    Die Musik, leises Plätschern und das sanfte Klingen von Metall auf Metall, durchrieselte ihn. Er schwebte ein paar Minuten in der Luft, genoß die beruhigende und sammelnde Wirkung der Töne, dann stieg er wieder nach oben zu den Schlafplätzen des Volks der mittleren Lüfte.
    Es war ein erstaunlicher Ort, dachte er. Er war froh, daß er ihn den Großteil des Tages über nicht mit Dulcy hatte teilen müssen, da ihre nächste Schicht erst bei Tagesanbruch beginnen würde. Er fühlte sich wie ein Kind, wenn er hier so flog in dieser Simwelt, allerdings nicht wie das Kind, das er tatsächlich gewesen war, denn das hatte niemals einen Moment reiner Freude erlebt. Nicht vor dem ersten Mord. Aber hier, jetzt, umspült von der Luft, hatte er das Gefühl, alles Irdischen ledig zu sein, eine perfekte Maschine, ein Wesen aus dunklem Licht und süßer Musik.
    Ich bin ein schwarzer Engel, dachte er und lächelte zu dem Glockenspiel in seinem Kopf.
    Er hatte sie bei der Ankunft gesehen, ein weißhaariges Mädchen, das in den Ästen eines der großen Bäume jüngere Geschwister gehütet hatte – eine Mutation vielleicht, ein Albino oder sonst eine genetische Anomalie. Noch wichtiger als ihr faszinierendes Äußeres war ihr Alter gewesen, jung genug, um kontrollierbar zu sein, aber alt genug, um sexuell attraktiv zu wirken. Dread hatte kein Interesse daran, richtige Kinder zu jagen, und empfand für Leute, die das taten, eine leise Verachtung, als wären sie bei einem Persönlichkeitstest durchgefallen. Es war eine ähnliche Verachtung, wie er sie für Leute empfand, die damit angaben, seine spezielle Kunst auszuüben, aber es nur in der VR und mit simulierten Opfern taten – sie mußten nicht mit Vergeltung rechnen, nicht den Arm des Gesetzes fürchten. Sie hatten nicht, wie er ständig, die Meute zahmer Doggen im Nacken, die im Auftrag der Hammelherde Jagd auf den Jäger machte.
    Er ließ das Glockenspiel in etwas Emphatischeres übergehen, ein Thema für ein heroisches und einsames Raubtier. Nein, diese Möchtegernkiller packten die Sache nicht richtig an. Sie waren kaputte Maschinen, aber er war ein nachgerade perfekter Apparat.
     
    Seine leise, aber dramatische Suchmusik spielte schon ziemlich lange, als er endlich die Schlafhöhle ihrer Familie ausfindig gemacht hatte. Er hatte genau, aber unauffällig achtgegeben, wohin sich die einzelnen Gruppen gegen Ende des Abends zurückzogen, doch die Orientierungspunkte, die er sich gemerkt hatte – der markante Felsvorsprung, der wie verknotet aussehende Krüppelbaum, der sich an die Steilwand klammerte –, waren in der mondlosen Finsternis schwer zu erkennen. Aber er war ganz in der Hochstimmung der Jagd, und das allein hatte ihn überzeugt, daß er nicht scheitern konnte;

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