Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
das allein hatte ihn an seinem Ziel festhalten lassen, bis er fand, was er suchte.
Sie schlief zwischen zwei kleineren Kindern, eine vage Gestalt, die nur an einem ganz schwachen Sternenschimmer auf ihren Haaren zu erkennen war. Er hockte sich über sie wie eine Spinne am Rand ihres Netzes, wippte leicht auf den Fußballen hin und her, bis er die Balance für den einen Griff hatte, den er sich erlauben durfte. Als er bereit war, stießen seine Hände zu. Eine drückte ihr die Kehle zu, die andere glitt unter sie, raffte sie auf und hatte ihre Arme schon fest umschlossen, als sie mit einem Ruck wach wurde. Sein Simkörper war zäh und stark, und der Griff um ihre Kehle verhinderte, daß sie den geringsten Ton herausbrachte. Mit drei Schritten war er aus der Höhle hinaus, und zwischen den beiden ruhig weiterschlafenden Kindern blieb nur eine abkühlende Lücke zurück.
Sie zappelte in seinen Armen, bis er mit den Fingern zur Halsschlagader glitt und das Blut abdrückte; als sie erschlafft war, warf er sie sich über die Schulter und trat hinaus – wie alle ihres Volkes war sie ungewöhnlich leicht, als ob ihre Knochen weitgehend hohl wären. Darüber verlor er sich in verschiedene ablenkende Spekulationen, so daß er im Dunkeln beinahe fehlgetreten wäre. Er lief eilig zu dem ausladenden Vorsprung, den er sich gemerkt hatte, eine Felsnase, die wie eine abgebrochene Brücke weit über das Tal hinausragte, über die Spitzen selbst der größten horizontalen Bäume hinaus, dann blieb er an ihrem Fuß stehen und machte sich bereit. Jetzt kam der schwierigste Teil, und wenn er sich verschätzt hatte, konnte das alle möglichen schrecklichen Folgen haben.
Dread verlagerte das Gewicht des Mädchens ein bißchen nach vorn, dann gab er der klingelnden Musik in seinem Kopf einen konstanten Hintergrundbeat hinzu, passend zu seiner Stimmung, passend zur Szene. Der Himmel schien sich ein Stück herabzusenken, erwartungsvoll zuzuschauen.
Der Star, dachte er. Ich. Das unmögliche Wagnis. Hintergrundbeleuchtung. Heroische Silhouette. Die Kamera in seinem Kopf sah alles, seine Sicherheit, seine Klugheit, seinen Mut. Kein Stuntman, ungedoubelt. Er allein.
Er nahm über die Felsnase Anlauf, ließ seine virtuellen Gehwerkzeuge mit der ganzen Kraft seiner realen muskulösen Beine fliegen, bis er so schnell wie ein Sprinter war. Der Stein erstreckte sich vor ihm, ein dunkler Finger, der in eine noch tiefere Dunkelheit deutete. Es war schwer zu sagen, wo das Ende war. Zu lange warten – Katastrophe. Zu früh springen – dasselbe.
Er sprang.
Er hatte richtig geschätzt und sprang vom äußersten Punkt der Felsspitze ab. Als er die Luft unter sich fühlte, streckte er die Arme aus, um besser zu gleiten, wobei er sein Bestes tat, um das Mädchen ruhig auf der Schulter zu halten, aber er merkte dennoch, wie er unweigerlich sank. Ein Mensch konnte nicht mit dem Gewicht von zweien fliegen, selbst wenn der andere so klein und schlank war wie seine Gefangene. Gleich mußte er sie loslassen, oder er wurde mit hinuntergedrückt. Er war gescheitert.
Da fühlte er den Wind stärker werden. Im nächsten Moment wurde er kopfüber seitlich mitgerissen, so daß er die Arme einziehen und das Mädchen fest an sich pressen mußte. Er hatte den Fluß aus Luft erreicht.
Dreads Musik schwoll triumphierend an. Der Fluß erfaßte ihn und trug ihn vom Lager des Rotenfelsstammes fort.
Als sie sich in seinem Griff zu regen begann, arbeitete er sich aus den langsameren Strömungen des Luftflusses hinaus, bis er wieder fühlte, wie ihr Gewicht ihn hinabdrückte. Als er schließlich den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt, ließ er sie los und schoß gleich darauf hinter ihr her.
Er hatte auch in dem Punkt richtig vermutet: Ihre natürlichen Reflexe retteten sie, noch bevor sie wieder voll bei Bewußtsein war. Während sie desorientiert und verängstigt herumflatterte und zu verstehen versuchte, wo sie war und was geschehen war, umkreiste er sie in der Dunkelheit und redete auf sie ein.
Da sie aus ihrer zugedrückten Kehle noch keinen Ton herausbekam, konnte sie nur zuhören, wie er ihr beschrieb, was er mit ihr anstellen würde. Als die Panik sie schließlich überwältigte und sie sich umdrehte und die Schlucht hinauf floh, ließ er ihr nur einen kleinen Vorsprung. Eine richtige Jagd war eine Sache, aber er wußte, daß es alles andere als lustig wäre, wenn sie ihm tatsächlich entkäme und vor ihm den Nistplatz ihres Volkes erreichte.
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