Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Rechteck. Es stand ganz dicht am Rand des Flusses, aber ragte höher empor als selbst die gebirgshohen Küchentresen.
»Eisschrank«, bemerkte Starke Marke.
»Und die bösen Männer sind da drin?« fragte Orlando.
»Nein.« Der Häuptling schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Sind da.« Er deutete mit seinem Paddel in die Richtung.
Vorher von der Dunkelheit verhüllt und jetzt nur dadurch zu erkennen, daß die Wachfeuer vor dem Eisschrank die Silhouetten scharf hervortreten ließen, war vor Orlando und den anderen eine Reihe von Masten aufgetaucht, die aus einem schattenhaften, geschwungenen Schiffsrumpf emporragten. Überrascht und erschrocken stieß Orlando einen leisen Fluch aus. Der Häuptling verlangsamte mit einigen Rückwärtsschlägen ihre Fahrt und ließ dann das Kanu lautlos treiben. Das mächtige Schiff war größtenteils dunkel, nur in ein paar kleinen Fenstern schimmerten Laternen, deren Lichter Orlando fälschlich für Spiegelungen der Strandfeuer gehalten hatte.
»Es ist sowas wie ein Piratenschiff«, flüsterte Fredericks mit weit aufgerissenen Augen.
Während der Häuptling näher an die Galeone heranpaddelte, wunderte sich Orlando über den merkwürdigen Umriß des Schiffes: Die hohen Masten und die eingerollten Segel sahen normal aus, soweit er das beurteilen konnte, aber der Rumpf wirkte ungewöhnlich glatt, und am Heck stand ein seltsamer griffartiger Bogen ab, der zu keiner Darstellung eines Piratenschiffes paßte, die er je gesehen hatte. Erst als sie so dicht dran waren, daß sie das Stimmengemurmel vom Deck über ihnen hören konnten, bemerkte er die Ballastfässer, die um den Schiffsrumpf herumhingen. Auf dem am nächsten hängenden stand »BRAUNER KORSAR – Eingedickter Saucenfond«. Als ihr Sinn und Zweck war darunter in kleinerer Schrift zu lesen: »Damit die ganze Mannschaft kampfbereit bleibt!«
Das abschreckende Schiff der Piraten war eine Sauciere.
Als sie lautlos längsseits des riesigen Soßengefäßes anlegten, neben dem sie wie eine aus dem Schöpflöffel gefallene kleine Karotte oder Rübenscheibe wirkten, flüsterte Orlando: »Auf einem derart großen Schiff muß es bestimmt hundert Mann Besatzung geben. Wie sollen wir vier…?«
Häuptling Starke Marke schien an einem Kriegsrat nicht interessiert zu sein. Er hatte bereits das bewährte Seil aus dem Nichts gezaubert, mit dem er sie auch aus dem Spülbecken gerettet hatte, und knüpfte gerade ein Lasso daraus. Als er fertig war, warf er es gekonnt über eine der Hecklaternen, zog es straff und kletterte daran zum geschwungenen hinteren Ende der Sauciere empor. Orlando warf einen hilflosen Blick auf Fredericks und dessen erwartungsgemäß finstere Miene, dann schob er sich trotz allem sein Breitschwert in den Gürtel und folgte dem Streichholzindianer.
»Ich denke, irgend jemand sollte lieber beim Kanu bleiben, meint ihr nicht auch?« flüsterte die Landschildkröte. »Viel Glück, Jungs, oder Hals- und Beinbruch, oder was man sich sonst für einen Kampf gegen Seeräuber wünscht.«
Orlando hörte Fredericks etwas erwidern, das nicht ganz so freundlich klang wie »viel Glück«, doch dann straffte sich das Seil unter ihm, und er wußte, daß sein Freund hinterherkam.
Keiner von ihnen konnte so schnell klettern wie der Comicindianer. Als sie schließlich die Heckreling erreichten und sich hinüberzogen, kauerte Starke Marke schon vor dem Achterdeck im Schatten und legte gerade einen Pfeil in seinen Bogen ein. Fredericks zog wieder ein säuerliches Gesicht, dann nahm er den Bogen, den der Häuptling ihm gegeben hatte, von der Schulter und folgte dessen Beispiel. Orlando befühlte die schartige Schneide seines Schwertes und hoffte, es nicht gebrauchen zu müssen. Sein Herz klopfte schneller, als ihm lieb war. Trotz der totalen Unwirklichkeit der Simwelt, trotz der tanzenden Gemüsesorten und singenden Mäuse kam ihm dies hier sehr viel gefährlicher vor als Thargors Abenteuer in Mittland … was es wahrscheinlich auch war.
Die meisten Lichter und sämtliche Stimmen waren auf dem Hauptdeck versammelt. Mit dem Indianer an der Spitze, der sich mit bilderbuchmäßiger Geräuschlosigkeit bewegte, schlichen sie sich an den Rand des erhöhten Achterdecks heran, von wo aus sie einen Blick nach unten werfen konnten.
»Wie ist die Distanz, Bootsmann?« erkundigte sich jemand vom entgegengesetzten Ende des Schiffes mit recht theatralischer lauter Stimme.
Ein barfüßiger Mann in einem gestreiften Hemd unterbrach daraufhin seine
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