Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
nichts, aber Orlando hatte den Eindruck, daß sie irgendwo um ihre Freiheit kämpfte, wie ein in einem Dachzimmer eingesperrter Vogel. »Aber irgendwie unterscheidet ihr euch von den andern.« Der Nebel stieg einen Moment um den gläsernen Sarg herum auf und trübte die Sicht. »Warum seid ihr gekommen? Warum habt ihr mich geweckt? Warum habt ihr mich an diesen entsetzlichen Ort zurückgeholt?«
»Wer bist du?« fragte Orlando. »Bist du ein richtiger Mensch? Bist du hier gefangen?«
»Ich bin nur ein Schatten«, seufzte sie. »Ich bin der Wind in leeren Räumen.« Eine große Müdigkeit zerrte an ihren Worten, als ob sie etwas erklärte, das letzten Endes völlig belanglos war. »Ich bin … die Königin der Luft und der Dunkelheit. Was wollt ihr von mir?«
»Wo …« Fredericks gab sich alle Mühe, seine Stimme zu beherrschen, die zu quieken drohte. »Wo sind unsere Freunde? Wir haben unsere Freunde verloren.«
Eine lange Zeit blieb es still, und Orlando fürchtete schon, sie wäre wieder in ihren Schlummer zurückgesunken, aber der Nebel wallte ein wenig, und da sah er, daß ihre dunklen Augen immer noch offen waren, immer noch auf etwas Unsichtbares starrten. »Ihr seid alle gerufen worden«, sagte sie schließlich. »Bei Sonnenuntergang auf Ilions Mauern werdet ihr finden, was ihr sucht. Doch auf euch wartet ein anderer. Er ist nahe, aber er ist auch sehr fern. – Er kommt.«
»Er kommt? Wer kommt?« Orlando beugte sich vor, als ob er durch die Nähe besser verstehen könnte. »Wann?«
»Er kommt in diesem Augenblick.« Bei diesen Worten, mit geistesabwesender Entrücktheit gesprochen, durchlief Orlando ein Schauder, der absolut nichts mit der Kälte zu tun hatte. »Er ist schon hier. Er ist der Eine, der dies alles träumt – wir sind seine Albtraumgeschöpfe. Er träumt auch euch.«
»Was redet sie da?« fragte Fredericks verstört und zog mit wachsender Angst an Orlandos Hand. »Wer kommt? Hierher?«
»Laßt mich wieder schlafen«, sagte die Stimme, in die sich jetzt ein ganz leiser Quengelton einschlich, der Ton eines Kindes, das man aus irgendeinem unverständlichen Erwachsenengrund aus dem Bett geholt hatte. »Laßt mich schlafen. Das Licht ist so weit weg…«
»Wo sollen wir unsere Freunde finden?« hakte Orlando nach. »Bei irgendwelchen Mauern? Ilions?«
»Er kommt.« Ihre Stimme wurde schwächer. »Bitte, laßt mich gehen. Versteht ihr nicht? Mir … fehlt … mein …« Der Rest ihrer Worte war unhörbar leise. Die Lider klappten zu und bedeckten die großen, dunklen Augen.
Während sie schweigend dastanden, stieg der Nebel wieder auf, bis der Sarg völlig verschleiert war. Orlando drehte sich um, doch sogar Fredericks war kaum zu sehen, obwohl sein Freund nur eine Armlänge entfernt war. Eine ganze Weile fühlte Orlando sich niedergedrückt von einer bleischweren Traurigkeit, einem Elend, das ausnahmsweise einmal nicht sein eigenes war, und er war sprachlos.
»Ich denke, wir sollten gehen«, begann er schließlich, da veränderte sich das Licht, und alles war mit einem Mal auf unerklärliche Art anders.
»Orlando …?« Fredericks’ Stimme klang plötzlich sehr weit weg. Orlando streckte die Hand aus, aber seine erst vorsichtig tastenden, dann ängstlich greifenden Finger stießen ins Leere. Sein Freund war fort.
»Fredericks? Sam?«
Der Nebel ringsum erglühte und verbreitete eine diffuse Helligkeit, die die ganze Welt durchscheinend machte und Orlando das Gefühl gab, inmitten eines Stücks Quarz eingeschlossen zu sein. Das Licht, das zunächst nur ein hellerer Weißton gewesen war, gerann zu einer unsäglichen Farbe, einem Ton, der auf einem nicht recht vorstellbaren Spektrum, das kein Rot umfaßte, direkt zwischen Violett und Orange gefallen wäre. Eine grauenhafte, elektrisierende Furcht lähmte Orlando, nahm ihm jedes Empfinden für Oben und Unten, stieß die Wände und den Boden weg, so daß das Licht selbst eine Leere wurde, eine Abwesenheit, und er das einzige noch übrige Lebewesen war und ohne Ende in das schreckliche orangeviolette Nichts fiel.
Etwas legte sich um ihn, etwas, das die Leere war und das nicht die Leere war. Es redete in seinem Kopf. Er wurde zu den Worten, und jedes Wort war ein schmerzhaft zu bildendes, sogar schmerzhaft zu denkendes Ding, ein unmenschlich starkes heulendes Wehklagen.
Wütend, sagte es in ihm. Die Gedanken, die Gefühle wurden das ganze Universum, kehrten sein Innerstes nach außen, setzten ihn der großen Leere aus. Tue weh, sagte es,
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