Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
erklärte Häuptling Starke Marke.
Orlando kroch an den Rand und schaute hinab. Weit unten lag Fledderjan Gierlapp als kleine, dunkle und sehr stille Gestalt am Fuß des Eisschranks auf dem Linoleum. Mit seinem unter ihm ausgebreiteten Mantel sah er aus wie eine zerklatschte Fliege.
»Wir … wir dachten, du wärst weg«, stammelte Fredericks. »Geht’s deinem Kind gut?«
»Zündi in Boot«, sagte der Häuptling, womit er die Frage eigentlich nicht beantwortete. »Wir jetzt fahren.«
Orlando wandte sich vom Rand ab und begab sich zu ihnen. »Erst möchte ich sehen, ob es hier wirklich Schläfer gibt, wie die Schildkröte sagte. Ich möchte ihnen eine Frage stellen.«
Der Indianer warf ihm einen zweifelnden Blick zu, aber sagte nur: »Schläfer da oben«, und deutete mit seinem Daumen auf die Decke des Eisschranks über ihren Köpfen.
»Was, obendrauf?« fragte Fredericks.
»Es muß ein Gefrierfach oder sowas geben«, meinte Orlando. »Können wir es von hier aus erreichen?«
Der Häuptling führte sie an die Seite, wo eine Reihe kleiner Löcher in der Wand anscheinend dafür gedacht war, die Ablage nach oben oder unten zu versetzen. Er kletterte ihnen das kurze Stück bis zur Decke voraus, stützte sich ab, langte um die Oberkante herum und klopfte an etwas, das sie nicht sehen konnten. »Hier.«
Mit Hilfe des Indianers gelang es Orlando, an diesem vorbeizuklettern, bis er an eine dünne Randleiste kam; sie verlief auf der ganzen Breite vor einer Tür, die an Massivität der Haupttür des Eisschranks nur um weniges nachstand. Als er sich daneben hinkauerte, fühlte er, wie ihm die Kälte in Wellen entgegenschlug. Er sah in die schwindelerregende Tiefe hinab und hatte auf einmal den Eindruck, daß es vielleicht doch keine besonders gute Idee gewesen war. Die Piraten hatten eine riesige Kanone benötigt, um die große Tür aufzusprengen. Wie konnten er und Fredericks hoffen, dieses Ding aufzubringen, wenn sie nicht mal Preßlufthämmer und Sprengkapseln hatten?
Ohne wirkliche Aussicht auf Erfolg preßte er sich in die Ecke zwischen der Leiste und der eisigen Wand und schob sein Schwert in die Türritze. Die Klinge knirschte durch Eiskristalle, aber traf nicht auf Widerstand. Er zog am Schwertgriff wie an einem Hebel und war erstaunt, als er merkte, daß die Tür ein ganz klein wenig nachgab.
»Was hast du vor, Gardiner?« schrie Fredericks von unten. »Wir hängen hier an der Wand, falls du’s noch nicht gemerkt hast, und sind ungefähr zehn Zentimeter vom Rand weg. Ich könnt mir echt was Bequemeres vorstellen.«
Orlando sparte sich den Atem für das nächste Ziehen. Er stemmte die Fersen gegen die frostige Leiste und hebelte. Einen Moment lang geschah nichts, außer daß er spürte, wie er auf die Kante der schmalen Leiste zurutschte, und die kurze, schweißtreibende Vision hatte, hinabzustürzen und als zweiter Platscher am Boden neben Fledderjan zu landen. Da gab die Gefrierfachtür ein Quietschen von sich und ging auf. Ihre mächtige Unterkante hätte ihn beim Aufschwingen beinahe von seinem Kauerplatz gewischt. Eine Dunstwolke quoll langsam heraus und umhüllte ihn.
»Ich hab’s geschafft!« rief er und versuchte sich hineinzuziehen. Das Metall an der Türkante war so kalt, daß seine Haut daran kleben blieb, und als er seine Hände losriß, vergaß er vor Schmerz seine Situation, so daß er beinahe rückwärts ins Nichts gestürzt wäre. Als er sich wieder gefangen hatte, klammerte er sich an der Leiste fest und wartete ab, bis sein Herz sich wieder beruhigt hatte. »Die Tür ist auf!« rief er zu Fredericks hinunter. »Verdammt nochmal! Es ist saukalt!«
»Ja, vollblock, Gardiner«, rief sein Freund zurück. »Wer hätte das gedacht?«
Orlando wedelte den wallenden Nebel ein wenig zur Seite. Unmittelbar hinter der Tür war der Boden des Gefrierfachs mit einer knöchelhohen Reifschicht bedeckt – kalt an Knien und Händen, aber nicht annähernd so schlimm wie das überfrorene Metall. Im Innern war es dunkel; nur ein ganzer fahler Schimmer von der Glühbirne über ihnen drang herein. Orlando konnte im Innern des Gefrierfachs nichts erkennen – nach wenigen Schritten lag alles im Schatten –, aber es schien überraschend groß zu sein.
»Kommst du hoch?«
»Ja, ja, schon gut!« Fredericks’ Kopf war in der offenen Tür erschienen. »Du gibst nie nach, was? Warum freuen wir uns nicht einfach, daß wir noch leben, und sehen zu, daß wir wegkommen?«
»Weil ich glaube, daß dieses Anderland
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