Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Regeln hat, genau wie jede Spielwelt.« Orlando krabbelte zur Kante zurück und half seinem Freund hochzusteigen. »Ich weiß noch nicht, wie sie aussehen, aber geben muß es welche, da wette ich drauf. Und wir haben Fragen, oder etwa nicht?«
»Jede Menge«, gab Fredericks zu. »Aber die erste, die ich dich niemals stellen höre, lautet: ›Warum sich freiwillig Ärger anlachen?‹«
»Wo ist der Häuptling?«
»Er hält dich für megadumpfig. Er kommt nicht mit – ich weiß nicht mal, ob er auf uns wartet, Gardiner. Und ich weiß auch nicht…«
»Pssst.« Orlando legte einen Finger auf die Lippen. »Nicht so laut – mir ist nicht wohl dabei. Jedenfalls sind wir jetzt hier, da können wir uns auch mal umschauen.«
Fredericks machte Anstalten zu widersprechen, aber als er sah, wie ernst Orlando auf einmal geworden war, hielt er den Mund. Wenn sie sich nicht bewegten, stieg der Dunst um sie herum auf, so daß ihre Beine verschwanden und sie hüfttief in einer Wolkenbank zu stehen schienen. Fredericks’ Augen wurden groß, als er die weiße Leere betrachtete. Orlando hatte es bereits gefühlt. Das Gefrierfach war anders als die sonstigen Orte in der Cartoonwelt, an denen sie gewesen waren. Hinter der Stille herrschte so etwas wie eine gespannte Aufmerksamkeit, als ob irgend etwas, und sei es der Nebel und das Eis, sie mit träumerischem Interesse beobachtete.
Jeder Schritt, den Orlando tiefer in das Gefrierfach hinein tat, stieß durch die eisige Kruste und war in der Stille beklemmend laut. Sein Freund schüttelte den Kopf, aber kam hinterher. Nach wenigen Schritten war das durch die offene Tür fallende Licht nur noch ein heller Fleck im Dunst hinter ihnen. Fredericks blickte sehnsüchtig über die Schulter zurück, aber Orlando war nicht zu erweichen. Als er sich besser auf das eigentümliche Halbdunkel eingestellt hatte, nahm er Einzelheiten wahr, die ihm vorher entgangen waren. Die Seitenwände des Gefrierfachs konnte er noch immer nicht erkennen, und der hintere Teil lag weiter in Nebel und Düsternis gehüllt, aber er sah die Decke – eine glatte weiße Fläche mit einem dünnen Rauhreifpelz – ungefähr dreimal so hoch wie er lang war über sich, und war eben noch alles ein bleiches Einerlei gewesen, so konnte er jetzt im Nebel vor ihnen Gestalten ausmachen, niedrige Buckel, die sich hier und da über dem eisigen Boden erhoben, schneebedeckte Hubbel ähnlich den alten englischen Hügelgräbern.
Als sie sich einem der Buckel näherten, war Fredericks das Widerstreben deutlich anzumerken. Auch Orlando hatte ein Gefühl von unbefugtem Betreten. Während die übrige Comicwelt allem Anschein nach in erster Linie zum Vergnügen ihrer Schöpfer da war, schien das Gefrierfach etwas anderes zu sein, ein Ort, der niemandem gehörte … etwas, das eher von selbst gewachsen als von jemand geschaffen worden war.
Sie blieben vor dem eisigen Tumulus stehen, von ihrer eigenen Atemwolke umgeben. Orlando wurde abermals von dem Gefühl ergriffen, daß sie sich auf verbotenem Terrain bewegten, daß sie hier fremde Eindringlinge waren. Schließlich ermannte er sich und wischte behutsam die Reifschicht an einer Stelle weg.
Als das eingewickelte Stieleis auftauchte, war es im ersten Moment eine komische Ernüchterung. An der abgeriebenen Stelle leuchteten bunt die Farben hervor und stachen grell gegen das endlose Weiß um die Erhebung herum ab. Aber unter den Worten »Eiskalter Kasper« erschien die Gestalt eines Jungen, und mit seiner schrecklichen Deutlichkeit machte das Bild den Eindruck, daß es mehr war als nur Verpackungskunst, daß ein echter Körper in die Hülle gepreßt worden war. Der Junge trug kurze Hosen, ein gestreiftes Hemd und eine merkwürdige Mütze, die aus einer viel früheren Zeit zu stammen schien. Seine Augen waren zu, und sein Mund hing ein ganz klein wenig herab. Zuerst dachte Orlando, jemand habe sich einen grausamen Witz gemacht und sein Produkt mit dem Bild eines toten Kindes eingewickelt. Auf einmal regte sich der Eiskalte Kasper, seine Augenlider flatterten leicht, seine Nasenflügel weiteten sich fast unmerklich, und eine dünne, unglückliche Stimme raunte in ihren Ohren.
»Kalt … dunkel … Wo …?«
Orlando taumelte einen Schritt zurück und hätte beinahe Fredericks umgestoßen. Unwillkürlich faßten sie sich an den Händen und gingen von dem Tumulus weg.
»Das ist ja furchtbar«, flüsterte Fredericks schließlich. »Laß uns gehen.«
Orlando schüttelte den Kopf, sagte aber
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