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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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nichts, weil er Angst hatte, dann den Mut zu verlieren. Er zog Fredericks in einem großen Bogen um den Hügel herum, tiefer in das Gefrierfach hinein, aber er konnte die Erinnerung an den schlafenden Jungen nicht abschütteln. Zuletzt gab er sich einen Ruck und kehrte zurück, um den Reif wieder über das bleiche Gesicht des Eiskalten Kaspers zu streichen. Dann gingen er und Fredericks schweigend weiter.
    Die Hügel wurden jetzt auf allen Seiten höher, manche so hoch wie die Kartonhäuser der unteren Ablagen, und alle wirkten durch ihre Eisumhüllung undurchdringlich und geheimnisvoll. An einigen Stellen, wo die Reifschicht dünn war, sah man Gesichter wie durch dickes, schmutziges Glas; es schienen überwiegend Kinder zu sein, aber es waren auch stilisierte Tiere und einige weniger gut zu erkennende Wesen darunter, alle in kalten Schlummer eingepuppt. Stimmen hingen in der Luft, gespenstische Murmeltöne, von denen Orlando zunächst meinte, sie seien nur Produkte seiner Phantasie – schwache Rufe nach abwesenden Müttern, Klagen wegen der Dunkelheit, wirbelnde Geräusche, körperlos wie ein im Schornstein heulender Wind.
    Umgeben von diesen kläglichen, grausigen Stimmen war selbst Orlando sich nicht mehr sicher, was er hier eigentlich suchte; der Gedanke, einen dieser Schläfer wachzurütteln und auszufragen, war abscheulich. Er hatte zusehends das Gefühl, daß Fredericks wieder einmal recht behalten hatte, daß es ein unheimlicher Fehler gewesen war, an diesen Ort zu kommen. Da sah er den gläsernen Sarg.
    Er lag in der Mitte eines Hügelkreises, ein durchscheinendes Rechteck, das zwar vom Rauhreif versilbert, aber nicht unter einer weißen Decke begraben war wie die übrigen Insassen des Gefrierfachs. Er stach hervor, als ob er gewartet hätte – als ob es beabsichtigt gewesen wäre, daß sie ihn fanden. Die anderen Stimmen wurden leise, als sie sich ihm näherten. Orlandos sämtliche harterkämpften Simweltinstinkte sagten ihm, daß er vor einer Falle auf der Hut sein müsse, und er spürte, daß Fredericks’ Nerven zum Zerreißen gespannt waren, aber der Ort schien ihn mit einem Zauber zu umgarnen. Er fühlte sich eigenartig hilflos, unfähig, die Augen von dem Ding abzuwenden, als er darauf zutrat. Seine Erleichterung war nicht größer als eben beim Anblick des bunten Eispapieres, als er erkannte, daß es eine Butterdose war, eine von der altmodischen Sorte mit einem Glasdeckel. Am unteren Rand, durch die Reifschicht hindurch kaum zu lesen, stand in erhabenen Lettern die Aufschrift »Schneewittchen – feine Süßrahmbutter«.
    Auch Fredericks wirkte völlig hypnotisiert und machte keine Einwände, als Orlando sich vorbeugte und eine Stelle auf dem Glasdeckel freiwischte. Etwas war darin, wie er es erwartet hatte, kein Bild, sondern eine dreidimensionale Gestalt. Er befreite eine größere Fläche vom Eis, damit er sie ganz sehen konnte.
    Die Frau trug ein langes, altertümliches grünes Ballkleid mit Federbesatz und Eisperlen darauf. Ihre Hände waren ihr auf der Brust gefaltet worden und hielten den Stiel einer weißen Rose, deren Blütenblätter abgefallen waren und verstreut auf ihrem Hals, ihren Schultern und der Wolke ihrer dunklen Haare lagen. Ihre Augen waren geschlossen, die langen Wimpern mit Reif betupft.
    »Sie … sie sieht so … so traurig aus«, flüsterte Fredericks mit erstickter Stimme.
    Orlando konnte nichts sagen. Sein Freund hatte recht, aber das Wort wirkte grotesk untertrieben, so als wollte man die Sonne warm oder den Ozean naß nennen. Etwas an der Haltung ihres Mundes, an der trostlosen Starrheit ihrer elfenbeinernen Züge, ließ sie als ein Monument des stillen Unglücks erscheinen; selbst im Tode war sie viel mehr in ihr Leid eingekapselt als von Glas und Eis umschlossen.
    Da gingen ihre Augen auf – dunkel, erstaunlich dunkel, aber von Reif beschlagen, so daß sie wie durch trübe Fenster blickte. Orlandos Herz hämmerte. Ein schrecklicher Abstand lag zwischen diesen Augen und dem, was sie sehen sollten.
    »Ihr seid … Fremde«, seufzte eine Stimme, die von überall und nirgends zu kommen schien. »Fremde …«
    Fredericks schnappte nach Luft und brachte kein Wort heraus. Orlando zwang sich zum Reden. »Wir … wir sind …« Er verstummte und wußte nicht, wie er es mit Worten erklären sollte. »Wir …«
    »Ihr seid über den Schwarzen Ozean gekommen.« Ihr Gesicht regte sich so wenig wie ihr Körper, und die dunklen Iriden blieben starr nach oben gerichtet, auf

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