Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
kommen. Wenn der Markt vorbei ist, gehen sie wieder, und das nächste Mal ist er irgendwo anders.« Er zuckte mit den Achseln.
»Und er ist hier in … in diesem Netzwerk?« Sie hätte es beinahe das Gralsprojekt genannt – es fiel ihr schwer, sich zu merken, was ihr bereits in seinem Beisein herausgerutscht war. Von den Strapazen der Flucht taten ihr immer noch der Kopf und sämtliche Muskeln weh, Gott allein wußte, was oder wer sie das nächste Mal umzubringen versuchte, und sie fand es immer schwieriger, sich die ganzen Lügen und Ausflüchte zu merken, die die Sicherheit verlangte.
»Natürlich!« Aus seiner Stimme sprach die Geringschätzung, daß sie überhaupt etwas anderes in Erwägung ziehen konnte. »Hier ist es am besten, hier, wo die ganzen Reichen ihre größten Schätze versteckt haben. Wieso sollten wir vom fahrenden Volk uns mit Dingen zweiter Wahl begnügen?«
»Du willst sagen, du und deine Freunde, ihr streift hier nach Belieben rum und feiert kleine Partys? Aber wie seid ihr überhaupt reingekommen? Dieses Ding hat ein Sicherheitssystem, das Leute umbringt!«
Sah sie wieder ein kurzes Zögern? Einen Schatten? Doch als Azador lachte, klang seine rauhe Belustigung durchaus ehrlich. »Es gibt kein Sicherheitssystem, das die Roma aufhalten könnte. Wir sind ein freies Volk – die letzten freien Menschen. Wir gehen überall hin, wohin wir wollen.«
»Was heißt das?« Da kam ihr jäh ein Gedanke. »Moment mal. Wenn ihr euch alle irgendwo verabreden könnt, dann muß das bedeuten, daß ihr euch hier frei bewegen könnt – ihr müßt wissen, wie man die Durchgänge benutzt.«
Azador blickte sie mit gespielter Gleichgültigkeit an.
»Herrgott nochmal, wenn das stimmt, mußt du’s mir sagen! Wir müssen unsere Freunde finden – Menschenleben hängen davon ab!« Sie packte seinen Arm, aber er schüttelte sie ab. »Du darfst es nicht für dich behalten und zusehen, wie Menschen sterben – kleine Kinder! Das darfst du nicht!«
»Was bildest du dir ein?« Mit finsterem Blick trat er einen Schritt von ihr zurück. »Wie kommst du dazu, mir Vorschriften zu machen? Erst erklärst du mir, ich sei ein Schwein, weil ich mit diesem dämlichen Rep da drin was laufen hatte«, er deutete mit einer heftigen Bewegung auf die Kajüte, in der Emily lag, »und dann, wenn ich dir schon einen Haufen Sachen erzählt habe, willst du mir befehlen, dir noch mehr zu erzählen – mir was befehlen! Du hast sie ja nicht alle!« Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
Renie versuchte, ihre Wut hinunterzuschlucken, die Wut auf sich selbst wie auch die Wut auf ihn. Wann wirst du jemals klug werden, Frau? schimpfte sie im stillen. Wann lernst du endlich mal, deinen Schnabel zu halten? Wann?
»Ich weiß nicht mal, wer du bist«, fuhr Azador fort, und der Zorn verstärkte seinen Akzent. Er musterte sie mit verächtlicher Langsamkeit von Kopf bis Fuß. »Eine weiße Frau, die vorgibt, eine schwarze zu sein? Eine alte Frau, die vorgibt, jung und schön zu sein? Oder bist du überhaupt eine Frau? Diese Krankheit ist ja im Netz weit verbreitet, aber Gott sei Dank nicht unter den Roma.« Er drehte sich um und spuckte über Bord, knapp an !Xabbu vorbei, der seinen Blick mit einer unergründlichen Pavianmiene erwiderte. »Sicher weiß ich bloß eines: Du gehörst zu den Gadschos. Du gehörst zu den andern, nicht zu uns. Und trotzdem trompetest du rum: ›Sag mir dies, sag mir das‹, als ob du ein Recht auf unsere Geheimnisse hättest.«
»Hör zu, es tut mir leid«, begann Renie und fragte sich gleichzeitig, wie oft sie sich noch bei diesem Mann würde entschuldigen müssen, wo sie ihm eigentlich am liebsten eine geknallt hätte, daß ihm der Schnurrbart von der Lippe flog. »Ich hätte nicht so mit dir reden sollen, aber…«
»Da gibt’s kein Aber«, unterbrach er sie. »Ich bin müde, und mir ist, als hätte mir jemand sämtliche Knochen gebrochen. Du willst der Anführer sein? Na schön, dann steuer du doch diesen häßlichen Kahn. Ich leg mich schlafen.«
Er ließ das Steuer los, stolzierte davon und verschwand hinter der Kajüte, vermutlich in Richtung Bug. Führerlos geworden, scherte das Schiff scharf zum Ufer aus. Renie mußte springen, um es wieder zurück in die Mitte des Flusses zu lenken, so daß ihr keine Gelegenheit zu einer Schlußbemerkung blieb, ob nun bissig oder versöhnlich.
»Nächstes Mal redest du mit ihm«, sagte sie zu !Xabbu . Ihre finstere Miene sah aus, als wäre sie ihr unauslöschlich ins
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