Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Gesicht geschnitten. »Irgendwie scheine ich kein besonderes Talent dafür zu haben.«
Ihr Freund glitt von der Reling, kam angetappt und drückte sie sacht am Arm. »Es ist nicht deine Schuld. Er ist ein aufbrausender Mann. Vielleicht hat er seine Geschichte verloren – ja, ich glaube, so ist es.«
Renie blinzelte müde. Der Fluß und die Bäume vor ihnen waren so dunkel, daß sie fast von der Nacht verschluckt wurden. »Vielleicht halten wir lieber an und werfen den Anker aus, oder was man sonst machen muß. Ich kann kaum noch was sehen.«
»Schlafen ist eine gute Idee.« !Xabbu nickte bekräftigend. »Du brauchst Ruhe. Wir alle brauchen Ruhe. An diesem Ort weiß man nie, wann wieder etwas passiert.«
Eine Anzahl möglicher Erwiderungen gingen ihr durch den Kopf, sarkastische und andere, aber sie konnte keine Kraft mehr dafür aufbringen. Sie stellte den Motor ab und ließ das Schiff ins flache Wasser treiben.
Renie fühlte, wie die Sonne ihr die entblößten Hautpartien verbrannte. Sie stöhnte und wälzte sich mit geschlossenen Augen auf die Seite, um Schatten zu finden, doch es gab nirgends welchen. Sie schlug die Arme vors Gesicht, doch jetzt war sie sich der heißen Sonnenstrahlen bewußt geworden und konnte nicht mehr so tun, als gäbe es sie nicht. Sie schossen auf sie nieder, als ob ein sadistisches Riesenkind das Licht mit einem ungeheuren Vergrößerungsglas bündelte.
Flüche nuschelnd setzte Renie sich auf. Die brennende weiße Scheibe stand fast direkt über ihrem Kopf, nur dünn verschleiert von einem mattgrauen Wolkengespinst – wahrscheinlich gab es nirgendwo auf dem Deck Schutz vor ihr. Außerdem hatte sich entweder der Anker losgerissen und sie waren abgetrieben, oder der Fluß und seine Ufer hatten sich verwandelt, während sie geschlafen hatte; Renie wußte nicht, welche Aussicht schlimmer war. Der Fluß hatte sich drastisch verschmälert, so daß die Ufer links und rechts keinen Steinwurf mehr entfernt waren, und der ordentliche Wald aus Pyramidenpappeln war zu einem tückisch wuchernden Pflanzengewirr geworden, einem Dschungel. Einige der Bäume ragten dreißig Meter und mehr in die Höhe, und bis auf die freie Schneise des Flusses konnte sie in keiner Richtung weiter als ein paar Meter in das Dickicht hineinschauen.
!Xabbu stand auf den Hinterbeinen am Schiffsrand und betrachtete den vorbeiziehenden Urwald.
»Was ist passiert?« fragte sie ihn. »Hat sich der Anker gelöst?«
Er drehte sich um und schenkte ihr ein seltsam anmutendes, aber aufmunternd gemeintes Pavianlächeln. »Nein. Wir sind schon eine ganze Weile wach, und Azador führt das Schiff wieder.«
Der besagte Mann hing hinten im Heck über dem Steuerrad, die dunklen Brauen zusammengekniffen, ansonsten von Zigarettenrauch umnebelt. Er hatte den Mantel ausgezogen. Der untere Teil seines Overalls war mit einem Stück Seil umgürtet, da vom oberen Teil nur noch Fetzen übrig waren. Sein Sim war sonnengebräunt und an der Brust und den Armen ziemlich muskelbepackt. Verärgert über seine penetrant stattliche Erscheinung wandte sie sich ab – es war kindisch, sich so einen Sim auszusuchen, selbst wenn er im RL tatsächlich so aussah, was sie sehr bezweifelte.
»Jedenfalls ist es gut, daß du aufwachst«, fügte !Xabbu hinzu. »Emily ist unglücklich, aber sie will nicht mit mir reden, und Azador spricht kein Wort mit ihr.«
Renie stöhnte wieder und stemmte sich hoch, aber mußte sich einen Moment an der Reling festhalten, weil ihre Wadenmuskeln sich verkrampften. Wenn sie ihre vielen Wehwehchen fühlte, fand sie es kaum glaublich, daß sie in Wahrheit nicht von Metallfäusten und dünn gepolsterten menschlichen Knochen geprügelt worden war, sondern von einer puddingartigen Masse, die diese Dinge lediglich vorspiegelte. Was die Resultate keineswegs weniger schmerzhaft machte.
Sie humpelte zur Kajüte. Das Mädchen saß auf dem Bett in die hinterste Ecke des winzigen Raumes gedrückt, als fürchtete sie sich vor wimmelndem Ungeziefer auf dem Fußboden. Trotz des Schweißglanzes auf ihrer jungen Haut preßte sie sich die hochgezogene Decke fest an die Brust.
»Hallo, Emily. Geht’s dir gut?«
Das Mädchen sah sie mit weiten, ängstlichen Augen an. »Wo ist der Affe?«
»Draußen. Soll ich ihn holen?«
»Nein!« Emily kreischte das Wort beinahe; dann faßte sie sich wieder ein wenig und lachte nervös. »Nein. Wenn er da ist, wird mir ganz komisch. Er ist genauso wie die Flugaffen der Vogelscheuche – ganz klein
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