Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
perfekt und real hinkriegen.«
»Aber vorher hat es dir gefallen, wie real sie war, oder?« Sie hörte, wie wieder die Wut in ihrer Stimme vibrierte, und drehte sich zur Seite, um die immer dichter werdende Dschungellaubwand am nahen Ufer in Augenschein zu nehmen. Die Vegetation hatte irgendwie etwas Unnatürliches, aber sie kam nicht drauf, woran das liegen mochte. Sie wandte sich wieder Azador zu. »Tut sie dir denn kein bißchen leid?«
Er ließ seine Lider sinken und betrachtete den Fluß vor sich durch schmale Schlitze, so daß er wie ein Filmbösewicht aussah. »Tut dir dein Teppich leid, wenn du drauftrittst? Das ist kein Mensch, das ist ein Maschineneffekt – ein Ding.«
»Woher willst du das wissen? In diesem ganzen Netzwerk wimmelt es von realen Personen, die sich als Figuren ausgeben. Woher willst du das wissen?«
Zu ihrer Überraschung zuckte Azador richtig zusammen. Er bemühte sich sichtlich, seine gleichgültige Maske beizubehalten, aber einen Moment lang sah sie in seinen Augen etwas ganz anderes, bis er sich wegdrehte und sich mit nervösen Fingern eine neue Zigarette in den Mund steckte.
Sie überlegte noch, was diese Reaktion wohl zu bedeuten habe, als !Xabbu vorn am Bug einen dringenden Ruf ausstieß und ihre sich soeben ordnenden Gedanken wieder wild durcheinanderflatterten.
»Renie! Komm mal her! Ich glaube, es ist wichtig.«
Ihr Freund hüpfte aufgeregt auf der Reling herum, als sie auf ihn zukam. Sie registrierte mit einer gewissen Sorge, daß seine Bewegungen von Tag zu Tag äffischer wurden. Wurde er einfach besser mit dem Paviansim vertraut, oder zeigte die ständige Gewohnheit, wie ein Tier zu leben und wahrzunehmen, allmählich ihre Auswirkungen?
»Schau.« Er deutete zum Ufer.
Renie sah hin, aber in ihrem Kopf herrschte ein Kuddelmuddel von halbgaren Gedanken, die alle um ihre Aufmerksamkeit buhlten. Am Flußufer fiel ihr erst einmal nichts Befremdliches auf. »Was ist denn, !Xabbu ?«
»Sieh dir die Bäume an.«
Sie zwang sich, die Stelle, auf die er zeigte, aufmerksam zu betrachten. Klar, da standen Bäume in allen Größen, zwischen deren Ästen dicke Lianen hingen wie ein Haufen Boa constrictors am Morgen nach einer Orgie. Nichts wirkte besonders bemerkenswert, höchstens eine gewisse Regelmäßigkeit der Formen – und genau das war es, erkannte sie jählings, was sie wenige Minuten zuvor gestört hatte. Obwohl die Bäume wie auch die Schlingpflanzen ganz naturgetreu aussahen, waren ihre Abstände und Verbindungen zu exakt, zu mechanisch. Genau besehen gab es zu viele rechte Winkel…
»Es sieht konstruiert aus.« Sie kniff vor der grellen Sonne die Augen zusammen, wodurch die Strukturen deutlicher hervortraten. »Der Wald sieht ein wenig wie das Werk aus. Bloß daß er aus Pflanzen besteht.«
»Ja.« !Xabbu sprang wieder hin und her. »Erinnerst du dich, was der Vogelscheuchenmann sagte? Daß seine Feinde im Werk seien – und im Wald.«
»O mein Gott.« Renie schüttelte den Kopf, fast – aber nicht ganz – zu erschöpft, um zu erschrecken. »Heißt das, wir sind geradewegs in das Reich von dem andern Kerl gefahren? Wie hieß er nochmal…?«
»Der Löwe…«, sagte !Xabbu ernst.
Ein dünnes Zischen ertönte plötzlich überall am Ufer, und in vielen der rechtwinkligen Freiräume zwischen den Bäumen tauchte flackernd ein gespenstisches Bild auf, eine ganze Parade identischer, allgegenwärtiger Bilder. Jede Erscheinung war kaum klarer als eine Spiegelung in einem sich kräuselnden Teich, so schwach und rauchzart, daß sie kaum zu sehen war, aber Renie meinte, hart glitzernde Augen und ein großes, helles Gesicht zu erkennen. Aus dem Zischen wurde ein knisterndes Rauschen, dann verblaßten die Bilder, und es war, als wäre ein ganzes Heer von Gespenstern auf einmal in die Flucht geschlagen worden.
»Was zum Teufel war das?« rief Azador vom Heck und würgte den Motor ab, so daß der Kahn nur noch langsam dahintrieb.
Renie versuchte gerade selber, sich darüber klarzuwerden, was zum Teufel das gewesen war, als sie !Xabbus kleine Hand – seine »haarigen, kneifigen Finger«, wie Emily sie angeekelt genannt hatte – an ihrem Arm fühlte. »Sieh mal«, sagte er im Flüsterton, in dem dennoch seine Verwunderung und Unsicherheit durchzuhören war. »Sie kommen zum Wasser wie eine Familie Elenantilopen.«
Mehrere hundert Meter vor ihnen war eine kleine, verstohlene Gruppe menschlicher Gestalten aus dem Schutz des flußnahen Dickichts aufgetaucht. Da sie das Schiff
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