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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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noch nicht gesehen hatten, schlichen sie die Uferböschung hinunter zum Wasserrand. Einige kauerten sich zum Trinken hin, während andere aufpaßten, ob Angreifer kamen und dabei nervös den Dschungel hinter ihnen und die unmittelbare Umgebung der Trinkstelle beäugten. Sie waren hellhäutig, schmutzig und nackt bis auf die Ziergegenstände, die sie trugen, irgendwelche Jagdtrophäen, vermutete Renie: Etliche hatten Schwänze am Hinterteil baumeln, andere trugen Geweihe auf der Stirn oder hatten neben dem Gesicht Ohren herabhängen.
    Renie duckte sich und winkte Azador, das gleiche zu tun. Er hockte sich mit wachsamem Blick neben das Steuerrad, während das Schiff immer näher heranschwamm.
    Der Schlepper hatte vielleicht zwei Drittel der Distanz geräuschlos zurückgelegt, als ein geweihbewehrter Wachposten sie erspähte. Er gaffte das Schiff einen Moment lang mit offenem Mund an und gab dann ein ersticktes Bellen von sich. Die anderen nackten Menschen sprangen in wildem Durcheinander auf, daß die Kostümschwänze nur so flogen, und flohen unter Schubsen und Rempeln angstblökend in den Urwald.
    Das Schiff war jetzt fast auf der Höhe der Stelle, wo eben noch die Menschen gewesen waren. Als letzter der Gruppe blieb der Wachposten am Rand des schützenden Waldes stehen, um den Rückzug seiner Stammesgenossen zu sichern, und sah zu, wie das Schiff vorbeitrieb. Sein Geweih schien zu wackeln, eine Täuschung durch das auf ihn fallende gesprenkelte Sonnenlicht dachte Renie zunächst, bevor sie erkannte, daß das, was sie für Geweihsprossen gehalten hatte, in Wirklichkeit Hände waren, die an den Schläfen dem Kopf aufgepfropft worden waren. Seine Arme hörten an den vernarbten Stümpfen der Handgelenke auf.
    Die Finger dieser grausigen Geweihimitate zuckten abermals, als sie vorbeiglitten, und die Augen des Wachpostens – ganz dunkle Iris ohne das geringste Weiß – begegneten Renies Blick mit dem hoffnungslosen, entsetzten Glotzen eines verdammten Geschöpfes, das über die Abfallhaufen der Hölle kriecht. Dann drehte er ihr seinen Schwanz aus angenähter Haut zu und sprang in die dunklen Gründe des Waldes davon.
     
     
    > Long Joseph Sulaweyo stand am Rand des Waldes und blickte auf die Fernstraße. Ihm war zumute, als erwachte er gerade aus einem Traum.
    In der Nacht war ihm alles so einfach vorgekommen, als Jeremiah schlief und die hohen Decken dieses gottverfluchten Wespennests von jedem einsamen Schritt, den Joseph tat, widerhallten. Er wollte seinen Sohn besuchen gehen. Er wollte sich vergewissern, daß Stephen noch am Leben war. Renie hatte einmal gesagt, daß Joseph vielleicht seinen Sohn davongejagt, ihn in das Koma getrieben habe oder ähnliches dummes Zeug, und obwohl er dieses blödsinnige Ärztegewäsch wütend abgeschmettert hatte, hatte es dennoch in ihm weitergebohrt.
    Womöglich war Stephen inzwischen sogar aufgewacht, hatte er sich vorgehalten, als er die paar Habseligkeiten zusammenkramte, die er beschlossen hatte mitzunehmen. Und wenn, wie wäre das für ihn? Wie grausam? Was war, wenn der Junge erwachte, und seine ganze Familie war weg? Und als Joseph die letzten paar Geldscheine aus Renies Portemonnaie genommen hatte – sie würde sie in dieser Badewanne mit Kabeln eh nicht brauchen, nicht wahr? –, war ihm das Ganze als phantastischer Geniestreich erschienen. Er würde losgehen und seinen Jungen besuchen. Er würde nachschauen, ob mit Stephen alles in Ordnung war.
    Aber jetzt im Licht des späten Nachmittags, mit deutlichen Spuren vom Gestrüpp der Drakensberge an den Hosenbeinen und in den Haaren, sah die Geschichte völlig anders aus. Wenn Renie nun aus diesem Apparat herauskam, bevor er wieder da war? Sie wäre wütend und würde schimpfen, er habe bloß was zu trinken gesucht und sie dafür alle in Gefahr gebracht. Aber das stimmte nicht, oder? Nein, er war für seinen Sohn verantwortlich, Renie war bloß eines seiner Kinder. Sie war nicht ihre eigene Mutter, auch wenn sie sich manchmal so aufführte. Sie war nicht seine Frau, hatte ihm keine Verhaltensmaßregeln zu machen.
    Long Joseph ging ein paar Schritte auf den gekiesten Seitenstreifen hinaus. Es schien hier früh Abend zu werden: Mittag war erst ein paar Stunden vorbei, und schon war die Sonne hinter dem Berg versunken und ächzte ein kalter Wind die Flanke hinunter, zauste die Bäume und kroch unter Josephs dünnes Hemd, daß er Gänsehaut auf der Brust bekam. Er zupfte sich die ärgsten Dornen und Kletten ab und ging ein

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