Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
lassen.«
Paul war sofort beunruhigt. Er preßte sein Auge an die schmale Öffnung, aber außer ein paar schattenhaften Umrissen, die in einer der Kapellen verschwanden, konnte er nichts erkennen. »Ist das normal?«
»Aber ja doch. Ich hatte lediglich nichts davon gehört, aber das kommt vor.«
Nach einer halben Flasche oder mehr guten toskanischen Weines (und einer entsprechenden Wirkung, die nicht bloß virtuell zu sein schien) fühlte Paul sich kühn genug, um endlich zu fragen: »Welche Position bekleidet Ihr hier eigentlich?«
»Später.« Sie deutete mit einem Nicken auf Gally, der mehrere Schritte vor ihnen ging. »Wenn er schläft.«
Sie waren erst wenige Minuten wieder unten in Eleanoras Gemächern, als der Junge, der mit dem Rücken gegen den Diwan auf dem Fußboden saß, einzunicken begann. »Komm, Junge«, sagte die Frau. »Du schläfst heute nacht hier. Geh in das Zimmer dort hinten. Du kannst dich auf dem Bett langmachen.«
»Auf Eurem Bett?« Trotz seiner Müdigkeit war ihm bei dem Gedanken deutlich unwohl. »O nein, Signora. Das ist nichts für einen wie mich.«
Sie seufzte. »Dann kannst du dir in der Ecke ein Lager richten. Nimm dir ein paar Decken aus der Truhe.« Als er hinausgestolpert war, wandte sie sich Paul zu. »Ich wünschte, ich könnte dir Kaffee anbieten. Möchtest du Tee?«
»Information wäre mehr nach meinem Geschmack. Ich habe dir meine Geschichte erzählt. Wer bist du? Wirst du mich den Leuten ausliefern, die dies alles gebaut haben?«
»Ich kenne sie kaum.« Sie kreuzte auf dem Diwan mit beeindruckender Gelenkigkeit ihre Beine. »Und nach dem, was ich von ihnen weiß, würde ich nicht einmal meinen schlimmsten Feind in ihre Hände geben.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber du hast recht – ich sollte dir fairerweise etwas über mich erzählen.
Zum einen bin ich Venezianerin. Das ist wichtiger als das Jahrhundert, in dem ich geboren bin. Ich würde lieber in diesem Venedig leben und wissen, daß es nur schöner Schein ist, als in irgendeiner andern Stadt in der sogenannten wirklichen Welt. Wenn ich dies hier hätte bauen können, mit meinem eigenen Geld, dann hätte ich es auf der Stelle getan. Aber ich hatte kein Geld. Mein Vater war ein Stubengelehrter. Ich wuchs im Dorsoduro auf und kellnerte für Touristen, schwachsinnige Touristen. Dann lernte ich einen älteren Mann kennen, und er wurde mein Liebhaber. Er war sehr, sehr reich.«
Nachdem die Pause eine Weile gedauert hatte, beschlich Paul das Gefühl, daß er etwas fragen sollte. »Was hat er gemacht?«
»Ach.« Eleanora lächelte. »Er war ein sehr hohes Tier bei der Camorra, einer bekannten neapolitanischen kriminellen Vereinigung, wie es in den Nachrichtennetzen heißt. Drogen, Charge, Prostitution, Sklaverei, das war und ist ihr Geschäft. Und Tinto war einer der Bosse.«
»Klingt nicht gerade nach einem sehr angenehmen Zeitgenossen.«
»Spar dir deine Urteile!« sagte sie scharf, dann faßte sie sich wieder. »Man macht Kompromisse. Das tun wir alle. Meiner sah so aus, daß ich mich ahnungslos hielt, solange ich konnte. Aber nach einer Weile steckt man natürlich zu tief drin, um noch was zu ändern. Als Tinto der Gralsbruderschaft beitrat und ich sah, was für erstaunliche Dinge dort gemacht wurden, ließ ich mir von ihm diese Stadt bauen. Er tat es – bei seinem Reichtum war das ein Klacks für ihn. Für sich selbst bevölkerte er Pompeji aufs neue und baute einen Großteil des römischen Reiches wieder auf, von ein paar gräßlichen Abenteuerurlaubsparadiesen mit Spionen und Schnellbooten gar nicht zu reden. Aber sein sehnlichster Wunsch war es, ewig zu leben – Jupiter Ammon auf einem ehernen Thron zu werden, nehme ich an. Es machte ihm nichts aus, mir ein kleines Geschenk zu machen. Er zahlte hundertmal soviel, wie dieses Venedig kostete, an die Gralsbruderschaft, damit sie ihre Unsterblichkeitsmaschinen bauen konnten. Das alte Sprichwort lügt: Verbrechen zahlt sich doch aus.«
»Unsterblichkeitsmaschinen«, murmelte Paul. Nandi hatte also recht gehabt: Diese Leute wollten Götter werden. Er fand den Gedanken leicht widerlich, aber auch erregend – und beängstigend obendrein. Doch wie auch immer, was hatte er getan, daß derart mächtige und wahnsinnige Leute hinter ihm her waren?
»Aber spätestens da fing der Irrsinn an«, fuhr Eleanora fort. »Er tat alles, um sich so lange am Leben zu erhalten, bis die Sache perfekt lief – er war schon alt, als er auf die Bruderschaft stieß. Er bekam ein
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