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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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fast vor Entrüstung.
    »Den nehmen wir mit und stoßen dort oben auf unser schönes Venedig an, mein liebes Mohrchen. Ich bin sicher, dein Freund Paul hat nichts dagegen, die Flasche zu tragen.«
     
    Wenn es eine unauffällige Art gegeben hätte, eine große Flasche Wein eine steinerne Treppe hinunterzuwerfen, hätte Paul sich ungefähr bei der hundertsten Stufe liebend gern ihrer entledigt. Er war froh, daß er wenigstens sein Schwertgehänge unten gelassen hatte und nicht auch noch die lange Scheide von den Wänden abhalten mußte, während er die schmalen Stufen emporkeuchte. Gally sprang munter wie eine Bergziege voraus, und sogar Eleanora, die doppelt so alt sein mußte wie Paul, schien das Treppensteigen kaum etwas auszumachen. Paul fühlte sich an die Geländeläufe seiner Schulzeit erinnert – er strampelte sich als letzter ab, und keiner nahm auf ihn Rücksicht.
    Von mir aus, schließlich ist es ihre Welt, dachte er grimmig, während er sich unter den immer niedriger werdenden Bögen duckte, die seinen beiden kleinen Gefährten keine Probleme bereiteten. Sie hat wahrscheinlich einen Antischwerkrafteffekt oder einen anderen Trick in ihren Sim eingebaut – oder wie diese Leute sonst dazu sagen.
    Am Ende eines Aufstieges, der Stunden zu dauern schien, taumelte Paul auf einen schmalen Laufsteg hinaus. Kalte Luft wehte ihm um die Nase, als er unter sich auf die Wölbung der Himmelfahrtskuppel der Basilika blickte und ganz Venedig – im Augenblick kam es ihm vor wie die ganze Schöpfung – zu seinen Füßen funkeln sah.
    »Auf der echten gibt es hier keinen Laufsteg«, flüsterte Eleanora ihm zu und klopfte kichernd auf das bauchhohe Geländer wie ein überaltertes Schulmädchen, das einen Streich eingestand. »Aber dafür lohnt es sich, ein klein wenig Authentizität zu opfern, nicht wahr? Schaut!« Sie deutete auf die am Kai an ihren Pfählen festgemachten Boote. »Da seht Ihr, warum ein französischer Gesandter den Großen Kanal einst ›die schönste Straße der Welt‹ nannte. Und geschäftig ist sie auch – das ganze Seereich der Republik nimmt hier von Sankt Markus seinen Ausgang. Wo ist diese Flasche?« Sie zog die Bleikapsel ab und tat einen herzhaften Schluck. »Schiffe fahren nach Alexandria, Naxos, Modon, Konstantinopel und Zypern und kommen zurück aus Aleppo, Damaskus und Kreta, den Laderaum voll mit unvorstellbar reichen Waren: Gewürze, Seide, Sklaven, Weihrauch und Orangen, Felle, exotische Tiere, Kunstschmiedearbeiten, Porzellan, Wein – Wein!« Sie hob abermals die Flasche. »Auf die durchlauchtigste Republik und ihren Meeresstaat!«
    Als sie getrunken hatte, gab sie die Flasche an Paul weiter, der sich ihrem Trinkspruch anschloß, zwar nicht ganz mit ihrer Begeisterung, aber doch mit einer gewissen unwillkürlichen Ergriffenheit. Er ließ sogar Gally einen kleinen Schluck trinken, den dieser zum größten Teil wieder aushustete und -nieste, als er etwas davon in die Nase bekam.
    »Als der blinde Doge Dandolo die Zerschlagung von Byzanz betrieb«, sagte Eleanora, »nahm er sich als Venedigs Anteil ›ein Viertel und ein halbes Viertel des ganzen Römischen Reiches‹. Ihr oder ich würden es vielleicht nicht ganz so steif ausdrücken, aber bedenkt einmal! Drei Achtel des größten Reiches, das die Welt bis dahin je gesehen hatte, in der Hand eines winzigen Staates von Kaufleuten und Seefahrern.«
    »Hört sich an wie Großbritannien«, meinte Paul.
    »Ha, aber das hier ist Venedig.« Eleanora schwankte ein ganz klein wenig. »Wir sind nicht wie Großbritannien, überhaupt nicht. Wir wissen, wie man sich anzieht, wir wissen, wie man liebt… und wir wissen, wie man kocht.«
    Um der freundschaftlichen Beziehungen willen schluckte Paul den letzten Rest seines Nationalstolzes hinunter und spülte mit Wein nach. Eleanora wurde schweigsam, während sie die Flasche hin- und hergehen ließen, und ergötzte sich an dem Anblick. Obwohl es gegen Mitternacht ging, schaukelten immer noch die Laternen von etlichen hundert Booten auf dem Canal Grande wie im Wind tanzende Glutfünkchen. Jenseits des Kanals hatte jede der Inseln ihre eigenen Karnevalslichter brennen, aber dahinter lag nur noch das dunkle Meer.
     
    Als sie wieder die Treppe hinuntermarschierten, blieb Eleanora vor einem der Fensterschlitze stehen, die einen Blick in das Innere der Basilika gewährten.
    »Es sind ziemlich viele Leute da unten«, sagte sie nachdenklich. »Jemand aus der Familie des Dogen muß eine Messe lesen

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