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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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war. Seine groben Züge waren altersschlaff; sein Kopf wackelte. Unter einer Nase, die offensichtlich mehrmals gebrochen war, hing ein dichter, schmieriger Schnurrbart, der unnatürlich schwarz gefärbt war, wie die Haare auch. Die untere Hälfte seines virtuellen Körpers war völlig von dem sargförmigen Altar verborgen, so daß er wie eine Leiche wirkte, die sich mitten in ihrer eigenen Totenfeier aufgesetzt hatte.
    Tinto flimmerte ein wenig, seine Auflösung war schlecht. Paul konnte durch seine Brust hindurch die Kerzen sehen. »Eleanora? Was machst du denn hier? Hat Maccino dich angerufen?«
    »Ich wollte dir bloß ein paar Fragen stellen.« Eleanoras leicht zittrige Stimme deutete darauf hin, daß sie bei der ganzen Angelegenheit nicht so kaltblütig war, wie sie Paul glauben gemacht hatte. »Kannst du mir ein paar Fragen beantworten?«
    »Wo zum Teufel bin ich?« Der Geist, oder was es sonst war, hob zwei schwielige Fäuste hoch und rieb sich die Augen. Einen Moment lang verzerrte er sich und wurde so schmal, daß er fast verschwand, dann sprang er in seine ursprüngliche Form zurück. »Meine Beine tun weh. Ich fühl mich beschissen. Diese Ärzte – die taugen nichts, eh? Hat Maccino dich angerufen? Ich hab ihm gesagt, er soll dir Blumen schicken, schöne Rosen, wie du sie magst. Hat er dich angerufen?«
    »Ja, Tinto. Ich habe die Blumen bekommen.« Eleanora blickte einen Moment weg, dann wandte sie sich wieder dem Altar zu. »Erinnerst du dich an mein Venedig? Die Simulation, die du für mich bauen ließt?«
    »Wie nicht? Hat ja genug gekostet.« Er zupfte an seinem Schnurrbart und schaute sich um. »Wo bin ich? Irgendwas… irgendwas stimmt nicht mit diesem Raum.«
    »Was muß ich tun, wenn ich nicht offline gehen kann, Tinto? Was mache ich, wenn es nicht funktioniert und ich nicht rauskomme?«
    »Haben diese Saftärsche Scheiße gebaut?« Er blickte grollend, ein zahnloser Tiger. »Ich reiß ihnen die Eier ab. Was soll das heißen, du kannst nicht offline gehen?«
    »Sag’s mir einfach. Was kann ich tun?«
    »Ich versteh’s nicht.« Plötzlich sah er aus, als wollte er weinen. Sein knochiges Gesicht wurde um Augen und Mund herum runzlig, und er schüttelte den Kopf wie einer, der wach zu werden versucht. »Verdammt, meine Beine tun weh. Wenn du auf dem normalen Weg nicht rauskommst, Eleanora, gehst du einfach zu Fuß raus. Sieh zu, daß du auf das Territorium von jemand anders kommst und sein Gear benutzt. Fahr den Kanal runter – du kannst immer auf dem Fluß in die nächste Welt gelangen. Entweder das oder… laß mich nachdenken, Venedig … klar, du gehst zu den Kreuzherren oder zu den Juden.«
    »Eine andere Art, offline zu gehen, fällt dir nicht ein? Eine direktere?«
    Er fixierte sie, um sie besser erkennen zu können. »Eleanora? Hast du die Blumen bekommen? Tut mir leid, daß ich nicht selber kommen konnte, Mädel. Sie halten mich in diesem Scheißkrankenhaus fest.«
    »Ja«, sagte sie langsam. »Ich habe die Blumen bekommen.« Sie tat einen langen, tiefen Atemzug, dann hob sie die Hand. »Gute Nacht, Tinto.«
    Das Bild wackelte einmal, dann verschwand es.
    Als Eleanora sich zu Paul umdrehte, waren ihre Kiefernmuskeln angespannt, ihr Mund ein dünner Strich. »Er fragt immer nach den Blumen. Er muß an sie gedacht haben, als die Kopie gemacht wurde.«
    »Aber du hast sie bekommen – die Blumen?«
    »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr.« Sie zuckte mit den Achseln, dann wandte sie sich ab, als wollte sie nicht mehr von Paul angeguckt werden. »Gehen wir zurück. Manchmal ist er brauchbarer als zu andern Zeiten – heute abend war er leider keine große Hilfe.«
    Im Gang blieb Eleanora plötzlich stehen und zog Paul in den Schatten an der hinteren Wand. Durch den Bogen gegenüber auf der anderen Seite der Basilika kam gerade eine ernst blickende Gruppe von Männern aus einer der Kapellen, einer hinter dem anderen. Sie hatten schwere Gewänder an, und jeder trug eine Kette um den Hals, in der Paul eine Art Amtszeichen vermutete.
    »Das ist der Rat der Zehn!« Trotz ihres fast unhörbaren Flüsterns klang sie sehr überrascht. »Ich kann mir nicht vorstellen, was die Ratsherren zu dieser Nachtstunde hier machen.« Sie nahm seinen Arm und zog ihn den Gang entlang. Wenige lautlose Schritte, und sie hatten einen anderen Bogen erreicht, der mit einem Teppich verhängt und vom Hauptschiff aus nicht einzusehen war. Sie lugte hinter dem Behang hervor und winkte dann Paul. »Das sind die

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