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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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die Plattformebene sagten Tintos Ingenieure glaube ich dazu. Das ist eine graue Leere, in der du unter verschiedenen Optionen wählen kannst.«
    Pauls Herz klopfte sehr schnell. »Bring mich dorthin. Bitte. Vielleicht finde ich von dort irgendwie nach draußen oder bekomme wenigstens ein paar wirkliche Aufschlüsse.«
    Eleanora blickte ihn eindringlich an. »Na gut. Aber ich komme mit.« Sie setzte sich in gerader Haltung auf ihrem Diwan hin und legte die Hand auf den Smaragdanhänger, den sie am Hals trug. Als ihre Finger die Kehle berührten, erstarrte ihr Körper. Paul blickte auf die unbewegte Gestalt; lange Sekunden vergingen. Sein Optimismus wich einer tiefen Niedergeschlagenheit.
    Als beinahe eine Minute verstrichen war, erwachte Eleanora mit einem Zucken wieder zum Leben. »Es klappt nicht.« Sie war deutlich überrascht. »Du bist nicht mitgekommen.«
    »Das hab ich gemerkt«, sagte er traurig. »Aber du warst da?«
    »Natürlich.« Sie setzte sich vor. »Wir werden Tinto fragen. Aber laß mich zuerst nach dem Jungen schauen.« Sie erhob sich und schlüpfte durch einen Türbehang in das hintere Zimmer. Paul blieb ziemlich verdattert sitzen.
    »Was meinst du damit, du willst Tinto fragen?« platzte er heraus, als sie wiederkam. »Ich dachte, er ist tot.«
    »Ist er. Folge mir.« Sie führte Paul, der sich jetzt gar nicht mehr auskannte, aus ihren Gemächern und durch den dunklen Gang zurück, wobei sie ihm mit einem Finger auf den Lippen Schweigen gebot. Leises Stimmengemurmel drang aus der Kapelle auf der anderen Seite der Basilika, undeutliche Gesprächsfetzen, die durch den riesigen, hallenden Raum trieben. Pauls Gefühl der Niederlage hatte sich verschlimmert. Die würgende Gewißheit, daß er niemals entkommen würde, stieg in ihm auf, und er mußte sich zusammenreißen, um nicht in Panik zu verfallen.
    Eleanoras kleine, schattenhafte Gestalt betrat vor ihm den Raum, in dem er sie zum erstenmal gesehen hatte, Kardinal Zens Kapelle. »Er ist ein fieser, alter Mistkerl, mein Tinto«, sagte sie leise. »Das ist einer der Gründe, weshalb ich nicht möchte, daß der Junge zufällig hereingeschneit kommt.«
    Paul versuchte, die Angst lange genug zurückzudrängen, um sich zu konzentrieren. »Könntest du mir bitte erklären …?«
    Ihr Lächeln war sardonisch. »Tinto ist tot. Aber in seinem letzten Jahr wollten sie ihn so präparieren, daß er die ganze Zeit über im System leben konnte. Frag mich nicht, wie – ich wollte mit solcher Leichenfledderei nichts zu tun haben. Sie machten, was weiß ich, sowas wie eine Kopie von ihm. Aber sie war fehlerhaft. Die Anlage funktionierte nicht richtig, oder sie wurden mit der Kopie nicht fertig. Nochmal, frag mich nicht, denn ich weiß es nicht. Aber man kann über sein System darauf zugreifen. Ich lasse sie hier nur … erscheinen oder so.« Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Der Gedanke, sie hier frei herumlaufen zu haben, wäre mir unerträglich. Du wirst gleich sehen, was ich meine.«
    »Ist sie … er … es eine Person?«
    »Gleich.« Sie trat vor und wies auf die vor dem Altar stehenden Stühle. »Setz dich dorthin. Es ist besser, wenn er dich nicht bemerkt.«
    Paul setzte sich. Er erwartete, daß Eleanora etwas Kompliziertes machen würde – eine Beschwörung singen oder vielleicht sogar, wenn es moderner sein sollte, ein paar verborgene Knöpfe drücken –, aber statt dessen bestieg sie lediglich die Stufen vor dem Altar und sagte: »Tinto, ich will mit dir reden.«
    Es gab ein Flackern auf dem Altar, dann murmelte eine leise Stimme Worte, die Paul nicht verstehen konnte. Die Lautstärke schwoll unvermittelt an, aber aus dem, was gesagt wurde, wurde er immer noch nicht schlau.
    »Ach, das habe ich vergessen.« Eleanora wandte sich Paul mit einem eigenartig angestrengten Lächeln zu. »Außer Tinto läuft hier alles durch Übersetzungssoftware. Ich nehme an, du bist kein Spezialist für neapolitanische Dialekte, nicht wahr?« Sie bewegte die Hand, und gleich darauf krächzte verständliches Englisch aus dem flackernden Licht auf dem Altar.
    »Wie lange lieg ich hier schon auf diesem Tisch? Verdammt nochmal, ich hab euch Idioten doch gesagt, daß ich heute noch was zu tun hab. Holt mich hier runter, oder ich reiß euch die Eier ab.«
    »Tinto.« Eleanora hob wieder die Hand. »Tinto, kannst du mich hören?«
    Der Lichtschein auf dem Altar wurde stärker, bis Paul den Kopf und die Schultern des toten Mannes sehen konnte, der Eleanoras Liebhaber gewesen

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