Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Organ nach dem andern ausgetaucht, Apparate zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen eingepflanzt, Flüssigkeiten aus einem Dutzend Laboren durch die Adern gepumpt, Bestrahlungen, künstliche Heilungszellen, alles. Er wollte um jeden Preis überleben, bis die Maschinen funktionierten und seine Investition sich auszahlte. Da bestach einer der andern Camorrabosse einen von Tintos ärztlichen Betreuern, und der schleuste eine besondere Rekombinante in sein System ein, einen speziell angefertigten Killervirus mit verzögerter Wirkung. Er erstickte an seinem eigenen Blut. Sein Körper verzehrte sich selbst. Ich war fünfzig Jahre lang seine Geliebte gewesen, aber ich kann nicht sagen, daß ich geweint habe.«
Sie stand auf und schenkte sich noch einen Wein ein. »Jetzt wohne ich hier wie ein Gast in einer Wohnung, deren Besitzer gestorben ist. Die Rechnungen sind bezahlt, auch wenn ich nicht weiß, für wie lange. Die Bruderschaft erhielt Milliarden von meinem Liebhaber, aber da er ihre Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen kann, haben die Gralsleute bei dem Spiel die Nase vorn. Wenn es nach ihnen geht, können seine Verwandten sich ewig über den Nachlaß streiten. Mein Gott! Seine letzte Frau, die ganze Brut seiner Kinder – sie sind wie ein Schlangennest.«
Paul ließ diese Informationen in sich einsinken, während Eleanora ihren Wein mit ein wenig Wasser versetzte. »Weißt du irgendwas über einen Mann namens Jongleur – Felix Jongleur?« fragte er. »Er scheint es auf mich abgesehen zu haben.«
»Dann hast du nichts zu lachen, mein Freund. Er ist der Mächtigste von dem ganzen Klüngel, ein Mann, neben dem mein Tinto wie ein kleiner Schulhofschläger aussieht. Angeblich ist er an die zweihundert Jahre alt.«
»Das hat der Mann vom Kreis auch gesagt.« Er schloß die Augen, kurzzeitig überwältigt von der Aussichtslosigkeit seiner Lage. »Aber ich weiß nicht, warum er hinter mir her ist. Und ich komme einfach nicht aus diesen Simulationen raus.« Er machte die Augen wieder auf. »Du hast gesagt, daß Gally – Mohrchen – ebenfalls ein richtiger Mensch ist, aber du hast auch gesagt, darüber hinaus wärst du dir bei ihm nicht ganz sicher. Was sollte das heißen?«
Die Angebetete des Kardinals saugte an ihrer Unterlippe und überlegte. »Ich kann es schwer erklären, woher ich weiß, daß er ein Bürger ist. Ich weiß es einfach. Nachdem ich so viele Jahre schon in einer Simulation lebe, kann ich es, glaube ich, fast immer erkennen. Aber obwohl ich Mohrchen bis vor kurzem noch nie gesehen hatte, hat er voll ausgeprägte Erinnerungen an sein Leben hier.«
Paul runzelte nachdenklich die Stirn. »Wie kannst du dann sicher sein, daß er nicht wirklich von hier ist, das heißt, daß er nicht ein Rep ist, dem du vorher einfach noch nie begegnet warst? Gibt es eine Liste von Bürgern und Replikanten?«
»Ach, nein.« Eleanora lachte. »Nichts dergleichen. Aber er interessierte mich, deshalb zog ich ein paar Erkundigungen ein. Die Replikanten hier, nicht wahr, sind innerhalb dieser Simulation entstanden. Sie sind auf ihre Art wie richtige Menschen – sie haben Eltern und ein Zuhause und Vorfahren. Hebammen und Priester haben ihre Geburt mitbekommen, selbst wenn alles virtuell ist. Einiges von dem, was Mohrchen über seine Vergangenheit sagt, paßt, könnte also wahr sein. Aber andere Sachen halten der Nachprüfung nicht stand. Auf einer bestimmten Ebene weiß er genug über mein Venedig, um hier hingehörig zu erscheinen, aber er hat an diesem Ort keine wirklichen Wurzeln.« Sie leerte ihren Wein mit einem Schluck. »Aber was er auch sein mag, er ist ein guter Junge. Er ist in meinem Haus willkommen.«
»Wenn dein … wenn dein Liebhaber tot ist, dann mußt du doch hier befehlen.« Ein Gedanke nahm in ihm Gestalt an.
»Niemand befiehlt hier. Befiehlt ein Wildhüter über den Wald, bloß weil er vielleicht einen Hirsch schießt oder einen Wilderer vertreibt? Er läßt nicht die Bäume wachsen. Er bringt nicht den Vögeln das Nestbauen bei.«
Paul wedelte ungeduldig mit der Hand. »Ja, aber du mußt in der Lage sein, online und offline zu gehen, um nur ein Beispiel zu nennen. Könntest du mich dorthin zurückversetzen, wo … in das System, das mich hier eingespeist hat?«
Sie überlegte einen Moment. »Nein. Ich kann dich nicht in dein eigenes System zurückversetzen. Aber ich könnte dich aus der Simulation hinausbefördern. Soviel vermag ich.«
»Wo würde ich hinkommen?«
»Auf die Einsprungebene –
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