Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
was gegessen.
Sie fragte, ob sie aufstehen dürfe, und ging auf ihr Zimmer. Die spezielle MärchenBrille, die Herr Sellars ihr geschenkt hatte, lag neben dem Bett auf dem Fußboden. Sie sah sie an und runzelte die Stirn, dann versuchte sie ein paar der Rechenaufgaben aus ihrem Schulbuch zu machen, aber mußte ständig daran denken, wie krank Herr Sellars ausgesehen hatte. Er hatte richtig zerknittert gewirkt, wie ein Stück Papier.
Vielleicht vergiftete der Junge ihn, dachte sie plötzlich. Wie in Schneewittchen. Vielleicht tat er irgendwas Schlechtes in das kochende Wasser, so etwas wie das Gift, in das die böse Königin den Apfel getunkt hatte. Und Herr Sellars würde einfach immer kränker werden.
Sie griff nach der MärchenBrille, dann legte sie sie wieder hin. Er hatte gesagt, er werde sie anrufen. Er war bestimmt böse, wenn sie ihn anrief, nicht wahr? Er war ihr zwar noch nie richtig böse gewesen, aber trotzdem…
Aber was war, wenn er vergiftet wurde? Oder vielleicht einfach von irgendwas anderem immer kränker wurde? Sollte sie ihm nicht eine Medizin bringen? Sie hatte ihn nicht gefragt, weil sie so unglücklich gewesen war, doch jetzt kam es ihr so vor, als ob er wirklich eine bräuchte. Dieser Junge konnte ganz gewiß keine Medizin besorgen, aber Christabels Mami hatte einen ganzen Schrank voll damit – Pflaster und Flaschen, Schmerzmittel, alles mögliche.
Christabel setzte die Brille auf und starrte in das schwarze Innere, grübelte weiter. Was war, wenn Herr Sellars doch böse wurde und ihr verbot, je wieder mit ihm zu reden oder ihn besuchen zu kommen?
Aber wenn er nun wirklich krank war? Oder vergiftet wurde?
Sie öffnete den Mund, dachte noch ein klein wenig darüber nach und sagte dann: »Rumpelstilzchen.« Sie sagte es nicht sehr laut, und sie überlegte gerade, ob sie es noch einmal sagen sollte, als eine Stimme sie anredete, aber keine Stimme, die aus der Brille kam.
»Christabel?«
Sie sprang auf und riß sich die MärchenBrille herunter. Ihre Mutter stand in der Tür und hatte so einen Ausdruck im Gesicht, der nichts Gutes verhieß, ganz kneifige Augenbrauen. »Christabel, ich habe gerade mit Audra Patrick gesprochen.«
Christabel hatte befürchtet, Mami wüßte, daß sie Herrn Sellars mit ihrem Geheimwort anrief, und einen Moment lang begriff sie überhaupt nicht, wovon ihre Mutter redete.
»Frau Patrick, Christabel? Danaes Mutter?« Ihre Mutter zog die Stirn noch krauser. »Sie sagte, du wärst heute gar nicht bei den Pfadfinderinnen gewesen. Wo bist du nach der Schule gewesen? Du bist erst kurz vor vier nach Hause gekommen. Und als ich dich fragte, wie’s bei den Pfadfinderinnen gewesen wäre, hast du gesagt, prima.«
Christabel fiel keine Antwort ein. Sie starrte ihre Mutter an und versuchte sich eine neue Lüge auszudenken, wie die ganzen anderen Male, wo sie gelogen hatte, aber diesmal kam sie auf nichts, auf gar nichts.
»Christabel, du erschreckst mich. Wo warst du?«
Unten im Tunnel, war alles, was sie im Kopf hatte. Wo der Junge mit den Zahnlücken ist, und die Giftwolke, und der kranke Herr Sellars. Aber sie durfte nichts von alledem sagen, und ihre Mutter starrte sie an, und das Gefühl von Echt Dicker Luft breitete sich im Zimmer aus, genau wie vorhin der Dampf im Tunnel, als auf einmal die MärchenBrille in ihren Händen einen leisen Knisterton von sich gab.
»Christabel?« sagte Herrn Sellars’ fiepsige Stimme. »Hast du mich angerufen?«
Christabel blickte völlig verdattert die Brille an. Dann sah sie zu ihrer Mutter auf, die jetzt ihrerseits die Brille mit einem Gesicht anstarrte, aus dem nahezu jeder Ausdruck gewichen war.
»Christabel?« sagte die fiepsige Stimme abermals, aber sie kam ihr furchtbar laut vor.
»Du … lieber … Himmel! Was geht hier vor?« Ihre Mutter tat zwei Schritte ins Zimmer und riß Christabel die Brille aus der Hand. »Rühr dich nicht vom Fleck, junges Fräulein«, sagte sie, ängstlich und böse zugleich. Sie drehte sich um, ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Gleich darauf hörte Christabel sie mit lauter Stimme auf ihren Papi einreden.
Christabel saß eine Weile allein und völlig gedankenleer in ihrem Zimmer. Das Knallen der zuschlagenden Tür schien nicht aufzuhören, es dröhnte wie eine Kanone, wie eine Bombe. Sie blickte auf ihre leeren Hände und brach in Tränen aus.
Kapitel
Das geliebte Stachelschwein
NETFEED/NACHRICHTEN:
»Diamanten-Dal« ist tot
(Bild: Spicer-Spence bei der Audienz bei
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