Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Sachen.«
»Yeah, und du ’ast die Seife kauft in la tienda neulich, was?« sagte der Junge. Er lachte wieder.
»Das ist nicht nötig, Cho-Cho.« Herrn Sellars zittrige Hand kam hoch wie ein vom Wind angewehter Ast. »Christabel, er hat gestohlen, weil er Hunger hatte. Nicht jeder hat eine nette Familie wie du und ein warmes Bett und reichlich zu essen.«
»Verdad«, sagte der Junge und nickte nachdrücklich.
»Aber warum ist er dein Freund? Ich bin doch deine Freundin.«
Herr Sellars schüttelte langsam den Kopf, nicht verneinend, sondern traurig. »Christabel, du bist immer noch meine Freundin – du bist die allerbeste Freundin, die irgend jemand haben kann. Daß du mir geholfen hast, ist viel wichtiger, als du dir vorstellen kannst – du bist die Heldin einer ganzen Welt! Aber im Augenblick muß ich meine übrige Arbeit machen, und dafür ist Cho-Cho besser geeignet. Und er braucht eine Unterkunft, deshalb lasse ich ihn hier.«
»Und wenn nicht, ich sag den vatos von Armee, daß unter ihre Stützpunkt lebt ein verrückter alter Mann, eh?«
Herrn Sellars’ Lächeln war nicht fröhlich. »Ja, das kommt noch dazu. Deshalb also, Christabel. Außerdem kannst du dich nicht ständig heimlich davonstehlen. Du bekommst Ärger mit deinen Eltern.«
»Bekomm ich nicht!« Sie war wütend, obwohl sie wußte, daß er recht hatte. Ihr fielen immer weniger einleuchtende Gründe dafür ein, allein mit dem Fahrrad wegzufahren, wenn sie dem Jungen und Herrn Sellars Tüten mit halb aufgegessenen Broten und Obst von ihrem Mittagessen bringen wollte. Aber sie hatte Angst, wenn sie aufhörte zu kommen, würde der Junge etwas Böses tun – vielleicht Herrn Sellars irgendwo hinbringen oder ihm weh tun. Ihr Freund war sehr dünn und nicht sehr kräftig. Im Moment sah er richtig krank aus. »Es ist mir auch ganz egal, ob ich Ärger bekomme.«
»Das ist keine gute Einstellung, Christabel«, sagte Herr Sellars sanft. »Bitte, ich bin sehr müde. Ich rufe dich an, wenn ich möchte, daß du kommst, und du bist und bleibst auf jeden Fall meine Freundin. Im Moment ist es deine Aufgabe, Christabel zu sein und dafür zu sorgen, daß deine Eltern ihre Freude an dir haben. Wenn ich dich dann um etwas Großes und Wichtiges bitten muß, wird es dir leichter fallen, es zu tun.«
Solche Reden hörte sie nicht zum erstenmal. Als sie genauso eine Frisur wie Palmyra Jannissar hatte haben wollen, die Sängerin, die sie ständig im Netz anschaute, hatte ihre Mutter gesagt: »Wir möchten nicht, daß du wie Palmyra aussiehst, wir möchten, daß du wie Christabel aussiehst.« Was nein hieß, N-E-I-N.
»Aber…«
»Tut mir leid, Christabel, aber ich muß mich wirklich ausruhen. Die Arbeit in meinem Garten hat mich völlig erschöpft – es ist so ein furchtbarer Wildwuchs geworden! … Und ich muß …« Ihm fielen die Augen zu. Sein komisches Knautschgesicht wirkte in einer Weise leer, wie sie es vorher noch nie gesehen hatte, und sie bekam es von neuem mit der Angst zu tun. Sie machte sich große Sorgen – er hatte doch gar keinen Garten mehr, jetzt wo er in einem Loch lebte, nicht einmal eine Pflanze, wieso sagte er dann so etwas?
»Komm mit, Tussi«, sagte der Junge, der auf einmal vor ihr stand. »El viejo muß schlafen. Laß ihn.«
Er sagte das so merkwürdig, daß sie einen Moment lang beinahe dachte, er sorgte sich um Herrn Sellars. Aber dann fiel ihr ein, wie er gelogen und gestohlen hatte, und da wußte sie, daß das nicht sein konnte. Sie stand auf, und zum erstenmal begriff sie, was gemeint war, wenn es in ihren Märchen hieß, »ihr war das Herz schwer«. Etwas in ihr schien eine Million Pfund zu wiegen. Sie ging an dem Jungen vorbei und blickte ihn nicht einmal an, obwohl sie aus den Augenwinkeln sah, daß er eine dämliche Verbeugung machte, wie jemand in einem Film. Herr Sellars sagte ihr keinen Abschiedsgruß. Seine Augen waren und blieben zu, und seine Brust ging rasch, aber sanft auf und nieder, auf und nieder.
Christabel aß zu Abend nicht viel von ihrer Portion. Ihr Papi redete über unerfreuliche Sachen in der Arbeit und über einen Druck, unter dem er stehe – sie stellte sich das immer wie das Dach in Kondo Kill vor, das herunterkam und die Leute zermatschte, das hatte sie mal bei Ophelia Weiner gesehen, als alle Eltern unten eine Party feierten –, deshalb merkte er gar nicht, daß sie ihr Essen bloß auf dem Teller umsortierte und den Kartoffelbrei zu einer dünnen Form zusammenschob, die aussah, als hätte sie
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