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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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schwieg. »Wenn das stimmt«, sagte er schließlich langsam und nachdenklich, »heißt das dann, daß Stephen auch hier ist, irgendwo im Otherlandnetzwerk? Und einen Körper hat genau wie wir?«
    Renie war wie vom Donner gerührt. »Darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Mein Gott, darauf bin ich überhaupt noch nicht gekommen.«
     
    Ihre Träume waren unruhig und fiebrig. Der letzte war eine lange, konfuse Geschichte, die damit anfing, daß sie Stephen durch ein Haus voll endloser, sich verzweigender Tunnel nachjagte und seine Schritte die ganze Zeit dicht vor sich hörte, während er ein um die Ecken huschender Schatten blieb, immer qualvoll knapp unerreichbar.
    Das Haus selbst, wurde ihr langsam klar, war lebendig – nur die Verschwommenheit der Traumbilder hatte sie daran gehindert, die schweißige Elastizität der Wände zu erkennen, die darmartige Rundheit der Gänge. Sie konnte seine ungeheuerlich langwellige Atmung spüren, das minutenlang auseinanderliegende Ein und Aus, und wußte, daß sie Stephen erwischen mußte, bevor er tiefer in das Ding hineingeriet und ein für allemal verloren war, verschlungen und verdaut, unwiderruflich verwandelt.
    Die gewundenen Gänge endeten vor einem unermeßlichen Dunkel, einer steil abfallenden Schlucht, die nach unten zu immer schmaler wurde, wie ein auf den Kopf gestellter gewaltiger schwarzer Berg aus Luft. In der Tiefe tönten Stimmen, trostlose Schreie wie von klagenden Vögeln. Stephen fiel – das wußte sie irgendwie, und sie wußte auch, daß sie sich augenblicklich entscheiden mußte, entweder hinter ihm herzuspringen oder ihn aufzugeben. Hinter sich hörte sie !Xabbu rufen, sie solle warten, er komme mit ihr, aber !Xabbu begriff die Situation nicht, und für Erklärungen war keine Zeit. Sie trat vor, so daß sie mit den Zehenspitzen direkt am Rand des Abgrunds stand, und war schon leicht in die Knie gegangen, um sich in die flüsternde Dunkelheit hinauszustürzen, als jemand sie am Arm packte.
    »Laß los!« schrie sie. »Er fällt, er fällt! Laß mich los!«
    »Renie, halt.« Das Ziehen wurde heftiger. »Du fällst in den Fluß. Halt.«
    Die Dunkelheit dehnte sich vor ihr ins Weite, die Kluft wurde unvermittelt länger und schmaler, bis sie ein schwarzer Strom war, ein dahinrauschender Styx. Wenn sie nur darin eintauchen könnte, würde der Fluß sie hinter ihrem Bruder hertragen …
    »Renie! Wach auf!«
    Sie schlug die Augen auf. Der ihrem Wachbewußtsein erscheinende Fluß – denn nichts in dieser Erfahrungswelt ließ sich als »wirklich« bezeichnen – gurgelte nur ein kurzes Stück unter ihr, in der Dunkelheit fast unsichtbar bis auf das Glitzern der Strömung und das gewellte Spiegelbild des Mondes. Sie kauerte auf Händen und Knien am Rand des abbröckelnden Flußufers, und !Xabbu hielt einen ihrer Arme umklammert, die kleinen Füße gegen eine Wurzel gestemmt.
    »Ich …« Sie blinzelte. »Ich hab geträumt.«
    »Das dachte ich mir.« Er half ihr aufzustehen, bevor er sie losließ. Sie stolperte zum Feuer zurück. Emily lag fötusartig zusammengerollt dicht an der Glut und atmete sanft, und ihr Elfengesicht war durch den Arm, den sie als Kopfkissen benutzte, ganz verquetscht.
    »Bin ich nicht dran, die Wache zu übernehmen, !Xabbu ?« fragte Renie und rieb sich die Augen. »Wie lange hab ich geschlafen?«
    »Das ist doch gleichgültig. Du bist sehr müde. Ich bin nicht so müde.«
    Die Versuchung war stark, loszulassen, wieder in die Träume zurückzugleiten, auch wenn sie noch so verstörend waren. Alles war besser als dieser gräßliche Wachzustand. »Aber das ist ungerecht.«
    »Ich komme sehr gut längere Zeit ohne Schlaf aus. Das muß man als Jäger, und die Familie meines Vaters lehrte es mich. Jedenfalls bist du wichtig, Renie, sehr wichtig, und ohne dich können wir nichts tun. Du mußt dich ein wenig erholen.«
    »Ich, wichtig? Guter Witz, haha.« Sie ließ sich hinplumpsen. Ihr Kopf war wie aus Beton und ihr Hals zu schwach, um ihn länger als wenige Sekunden oben zu halten. Kein Ziel mehr, keine sinnvolle Aufgabe mehr, nicht einmal mehr eine Ablenkung von ihrem Elend. Allmählich verstand sie ihren Vater und seinen gewohnheitsmäßigen Drang zu vergessen. »Ich bin ungefähr so viel nütze wie … wie … was weiß ich. Aber egal, was es ist, viel nütze ist es jedenfalls nicht.«
    »Du irrst dich.« !Xabbu hatte das Feuer geschürt, aber jetzt drehte er sich um, und seine Haltung dabei war selbst für einen Pavian eigenartig. »Es ist

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