Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Erhabenes, daß Menschen sich trauten, den Großen Vernichter Tod förmlich heraufzubeschwören – das schwarze Vakuum, in das alles Leben unweigerlich eingesaugt wurde.
Seine Gedanken kamen vom Allgemeinen zum Konkreten zurück, und ihm wurde gerade klar, daß an einem Venedig, in dem man sich so tief unter die Erde begeben konnte, ohne bis zur Nase im Meerwasser zu gehen, eindeutig etwas nicht stimmen konnte, als der Tunnel urplötzlich in einen weiten unterirdischen Saal mündete. Decke und Boden wurden von tausend Säulen auseinandergehalten, steinernen Pfeilern, die ebenfalls die Gestalt von Knochen hatten und so einen Wald von Schienbeinen und Oberschenkelknochen bildeten. Die Kerze konnte nur einen kleinen Teil des Saals erhellen, der sich nach allen Seiten ohne sichtbaren Abschluß im Schatten verlor, aber direkt vor ihnen war ein offener Bereich, wo keine Säulen standen und der leere Fußboden mit staubigen Mosaikfliesen gepflastert war. Als Paul ein paar Schritte darauf zu tat, erkannte er im Licht der inzwischen heiß und dicht an seiner Faust brennenden Kerze, daß die Fliesen einen riesigen, von Engeln und Dämonen getragenen Kessel darstellten, aus dem sich strahlendes Licht ergoß.
Das leise Geräusch schlurfender Füße drang aus dem Tunnel, den sie gerade verlassen hatten. Ein Schock durchfuhr Paul, als ob er auf ein stromführendes Kabel getreten wäre; Gally neben ihm gab einen schwachen Ton der Verzweiflung von sich.
Unvermittelt erschien vor ihnen in der Mitte des offenen Bereichs ein blaßgoldener feuriger Fleck. Das Leuchten verstärkte sich, bis das Gateway so hell brannte, daß schwarze Schattenstreifen von den Knochensäulen ausgingen und das Mosaik auf dem Fußboden in dem grellen Licht unkenntlich wurde. Paul wollte schon Hoffnung schöpfen, doch als er Gally zu dem schimmernden Rechteck hinzog, traten zwei Gestalten heraus, eine gigantisch dick, die andere hungerdürr. Mit einem erstickten Aufschrei des Entsetzens taumelte Paul zurück und zerrte den Jungen mit.
Reingelegt! Man hat uns reingelegt!
Als sie sich umdrehten und ein paar schwankende Schritte zurück in die Richtung taten, aus der sie gekommen waren, flackerte es abermals zwischen den Säulen. Gleich darauf schwebte Eleanoras kleine Gestalt dicht über dem Boden, ihr runzliges Gesicht blickte beschwörend.
»Geht nicht zurück!« Ihre Stimme schien nicht aus ihrem Mund zu kommen, sondern irgendwo aus der Nähe von Pauls Kopf. »Es ist nicht das, was ihr denkt – die größte Gefahr ist weiter dort hinter euch!«
Paul beachtete sie nicht. Es konnte keine größere Gefahr geben als die Figuren, die gerade aus dem Gateway gekommen waren. Er zog Gally mit sich zurück zum Tunnel. Eleanoras Hände streckten sich flehend nach ihnen aus, und der Junge zögerte, aber Paul ließ ihn nicht los. Doch als sie den Durchgang zurück in die Katakomben fast schon erreicht hatten, traten zwei Gestalten, die genauso wie die hinter ihnen aussahen, aus dem Tunnel und in den Säulensaal. In dem immer heller werdenden Licht des Gateways schienen die Masken der Komödie und der Tragödie aus geschmolzenem Gold zu sein. Eine Woge des Grauens ging von den beiden Figuren aus, überrollte und lähmte Paul.
Einen Augenblick lang setzte sein Gehirn aus, war blockiert wie eine kaputte Maschine. Finch und Mullett waren vor ihnen. Finch und Mullett waren hinter ihnen. Der Bau war an beiden Enden verstopft, und sie würden umkommen wie vergiftete Kaninchen. Die Vogelfrau hatte ihn im Stich gelassen, alle ihre Worte waren sinnlos geworden. Er konnte sich an keiner Feder mehr festhalten.
»Kehrt um!« rief Eleanora. »Lauft zum Gateway! Das ist eure einzige Chance!«
Paul gaffte sie sprachlos an. Begriff sie denn nicht, daß ihre Feinde auf beiden Seiten waren? Wenn sie zum Gateway umkehrten, trafen sie dort genauso auf sie …
Er wich vor den näher kommenden Masken zurück, den Jungen weiter im Schlepptau, und sofort graute ihm wieder davor, was in der Richtung auf sie wartete. Fast genau an der Stelle, wo Eleanoras Bild in der düsteren Krypta schwebte und ihn weiterhin zu bewegen suchte, zum Gateway zu fliehen, machte er abermals kehrt, denn von dort kamen ihnen immer noch die beiden ungleichen Gestalten aus dem goldenen Licht entgegen. Ihm knickten die Beine ein, und einen Moment lang drohte er zu stürzen und den Jungen mit zu Boden zu reißen, wo dann von beiden Seiten identische Feindespaare über sie herfallen würden.
Die Gatewayfiguren
Weitere Kostenlose Bücher