Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
nachmitternächtliche Venedig noch surrealer als vorher erscheinen, was er kaum für möglich gehalten hätte. Die Gesichter der Ungeheuer und Heiligen an den Kirchen, von denen anscheinend an jeder Straßenecke eine stand, sprangen einem völlig überraschend aus dem Nebel entgegen, und alle Statuen, die frommen ebenso wie die grotesken, schienen ewiglich in die Weite und in die Höhe auf etwas zu starren, das selbst die Erhabenheit Venedigs noch überstieg.
»Das ist der Zen-Palast da drüben«, flüsterte Gally, als sie an einem Gebäude vorbeikamen, das hoch über die treibenden Nebelschwaden hinausragte. Aus Erschöpfung hatten sie oder hatte wenigstens Paul in ein Tempo fallen müssen, das kaum mehr als ein zügiger Spazierschritt war. »Wo die Familie vom Kardinal wohnt.«
Paul, dem vor Müdigkeit und Furcht alles egal war, schüttelte den Kopf, aber Gally faßte das als Zeichen auf, daß er nicht verstanden habe. »Du weißt schon, der, von dem die gute Frau das Grab pflegt. Kardinal Zen.«
Abgesehen davon, daß er im Augenblick nicht das geringste Interesse an touristischen Informationen hatte, war Paul immer noch böse auf Eleanora, weil diese sie, und sei es aus noch so einleuchtenden Gründen, ihrem Schicksal überlassen hatte. Er wurde langsamer und blieb dann stehen, um endlich eine größere Menge der meerwürzigen Luft in die Lungen zu bekommen. »Wo ist dieses Hospiz?« japste er.
»Gleich da vorn. An den Jesuiten vorbei.« Gally faßte ihn sacht am Arm und hielt ihn an, wieder schneller zu gehen.
Pauls Beine waren wie Gummi, und seine Lungen brannten. Es war sehr anstrengend, eine halbe Stunde lange ohne Pause zu rennen, noch ein Detail, das in den Abenteuergeschichten und -filmen, die er kannte, nicht vorgekommen war. In Wirklichkeit war es unglaublich harte Arbeit, Abenteuer zu erleben.
Wenn ich gewußt hätte, daß ich mal dermaßen viel um mein Leben rennen müßte, dachte er kläglich, hätte ich vorher trainiert…
Als der Junge ihn an der Barockfassade der Kirche, die er »die Jesuiten« genannt hatte, vorbeiführte und sie auf einen öffentlichen Platz hinaustraten, fühlte Paul einen Übelkeitsdruck in der Magengrube: Die blinde Furcht war zurückgekehrt, der eiskalte Schauder, den Finch und Mullett, oder wie die Kreaturen sonst heißen mochten, bei ihm ausgelöst hatten. Er blickte sich mit schreckensweiten Augen um. Vielleicht ein Dutzend warm eingemummelter Leute ließen die Karnevalsnacht auf dem kleinen Platz ausklingen. Keiner davon hatte eine Ähnlichkeit mit den Verfolgern, doch obwohl das Grauen, das Paul empfand, schwächer war als vorher im Dom, war es unbestreitbar dasselbe Gefühl.
»O Gott«, ächzte er. »Sie sind hier – oder ganz in der Nähe.«
Gallys Augen wurden groß. »Ich kann sie auch fühlen. Seit sie mich damals angefaßt haben, als wir an diesem … diesem Traumort waren, kann ich sie fühlen.«
»Traumort?« Paul runzelte die Stirn und wußte nicht, wovon die Rede war. Er und der Junge schlichen über den Platz wie Soldaten auf Spähgang, musterten jeden Schatten. Die vor den Stufen der Jesuitenkirche herumstehenden Venezianer riefen ihnen Bemerkungen hinterher, nuschelige, unverständliche Scherze.
»In dem Schloß im Himmel«, erklärte Gally leise.
»Daran erinnerst du dich?« Paul hatte halb geglaubt, das Schloß sei tatsächlich ein Traum gewesen, und der Maschinenriese genauso, dem er beim erstenmal dort begegnet war – die ganze Erfahrung hatte sich so fühlbar von den anderen unterschieden.
Gally schauderte. »Wie sie mich angefaßt haben. Es … es tat weh.«
Wie ein aus dem Nebel auftauchendes Geisterschiff wurde auf der anderen Seite des Platzes ein kleines dunkles Gebäude mit vier aus dem Dach aufragenden hohen Schloten sichtbar. Gally nahm seine Hand, wollte ihn zur Eile antreiben, ihm zu verstehen geben, daß dies der Ort sei, den sie suchten, aber Paul merkte plötzlich, daß ihm davor graute einzutreten. Etwas an der massigen Form des Gebäudes war ihm unheimlich, und das Gefühl, daß ihre Verfolger nahe waren, hatte zugenommen. Vielleicht warteten sie schon im Innern …
Eine hohe Gestalt schälte sich aus dem Nebel heraus. Gally kreischte auf.
»Welch glücklicher Wind?« fragte eine tiefe, zittrige Stimme.
Die schwankende Gestalt war in ein fadenscheiniges Cape gehüllt, das wie zerzauste Flügel flatterte. Mit seinem langnasigen, beinahe kinnlosen Gesicht und seinen scharfen Augen hatte der alte Mann eine bemerkenswerte
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