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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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sich vor wie ein Geier. »Ihr habt gesagt, Ihr gebt mir Geld.«
    »Zeig uns, wo die Katakomben sind.« Paul gab sich alle Mühe, normal zu klingen, aber innerlich gefror er förmlich zu Eis, und am liebsten hätte er seinen Instinkten nachgegeben und sich in die nächste Ritze verkrochen. »Wo sind die Katakomben? Der unterirdische Teil?«
    »Da unten ist niemand außer toten Kreuzrittern«, quengelte Nicolò. »Ihr habt gesagt, Ihr wollt jemand besuchen.«
    Paul zog seine Börse aus dem Gürtel und zeigte sie ihm. »Wir haben nicht gesagt, jemand Lebendigen.«
    Nicolò leckte sich die Lippen, drehte sich um und torkelte in die Kapelle. »Hier lang.«
    Der alte Mann führte sie zu einer Stelle hinter dem Altar, zu den ersten Stufen in einem Treppenschacht, der in der schwach beleuchteten Kapelle wenig mehr als ein viereckiges schwarzes Loch im Boden war. Paul warf ihm die Börse zu, und eine ungläubige Freude trat in Nicolòs Gesicht, als er sich die Dukaten in die zitternde Hand schüttete. Gleich darauf eilte er durch die Kapelle davon, vermutlich um seinen Verdienst zu verpulvern, solange der Karneval noch nicht ganz vorbei war. Zu jeder anderen Zeit hätte Paul den Anblick von soviel Habgier gepaart mit Klapprigkeit komisch gefunden; jetzt konnte er sich kaum auf den Füßen halten, so stark war das Gefühl einer zuschnappenden Falle. Er hastete zu einem Wandleuchter, aber kam nicht an die Kerzen heran. Er hob Gally hoch, damit dieser eine herunterholen konnte.
    Selbst mit dem dünnen Licht, das die Kerze in Pauls Faust vor ihnen verbreitete, war die Treppe tückisch. Die Stufen waren schmal und in der Mitte ganz ausgetreten von unzähligen stapfenden Füßen, den vielen Generationen von Ordensbrüdern, die jahrhundertelang Jahr für Jahr, einen heiligen Tag nach dem anderen, hier hinabgestiegen waren, um die Gebeine der Beschützer der Christenheit zu segnen. Sie kamen schließlich am Fuß der Treppe an, wo die Katakomben begannen und wo auf einmal viel mehr Schatten als Kerzenschein war. Das flackernde Lichtlein ließ eine Reihe finsterer Öffnungen in einer uralten Steinmauer erkennen, aber keinen Hinweis darauf, welche davon die richtige war. Paul wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und fluchte still vor sich hin. Es war wie in einem gräßlichen Rollenspiel. Für die hatte er noch nie was übrig gehabt.
    »Eleanora?« fragte er leise. Das Gefühl der Gefahr war jetzt so stark, daß schon ein Flüstern zu genügen schien, um sie ihren Feinden zu verraten. »Hörst du mich? Welchen Weg sollen wir nehmen?« Doch es kam keine Antwort. Die Löcher in den Wänden klafften wie Idiotenmäuler.
    Gally zerrte ihn am Ärmel, um ihn von der Stelle zu bewegen. Pauls Blick fiel auf den Fußboden. Auch die Steinplatten vor jeder Öffnung waren völlig abgetreten, aber die ganz rechts machten den blanksten Eindruck, als ob die meisten sich dorthin wenden würden, während der Tunnel an der Wand ganz links deutlich weniger begangen wirkte. Paul zögerte nur einen Moment und entschied sich dann für die linke Seite.
    Die Nischen in den Tunnelwänden bargen schlafende Gestalten, die kalten Marmorhände betend auf der Brust gefaltet, die Marmorgesichter zu einem Himmel aufschauend, von dem viele Schichten Stein sie trennten. Je weiter der Tunnel nach innen und nach unten führte, um so mehr ersetzte einfacherer Stein den teureren Marmor, wurden die Skulpturen schlichter und schrumpften sogar die Nischen. Als sie sich schon lange nicht mehr unter dem Oratorium befinden konnten, sondern ihre gewundene Bahn weit unter dem Platz davor ziehen mußten, hörten die Totenfiguren und die Einzelgräber schließlich ganz auf, und an ihrer Stelle kamen hohe Haufen wild durcheinanderliegender Gebeine. Paul spürte, wie der zitternde Junge seine Hand umklammerte.
    Die Skelettberge wurden höher, bis der Tunnel völlig von Knochen eingefaßt war. Hier und da waren an Biegungen Totenschädel wie Kanonenkugeln aufgestapelt oder als Zierelemente in die Knochenhaufen eingefügt, Zickzacklinien aus fleischlosen Gesichtern. Hunderte von leeren Augenhöhlen starrten sie beim Vorbeigehen an, schier endlose Paare dunkler Löcher.
    Während er auf die Skelettwände und die darin dargestellte letztendliche Vergeblichkeit menschlichen Strebens blickte, mußte Paul bei aller Verzweiflung und allem Grauen einen Moment lang die Gralsbruderschaft beinahe bewundern. Sie mochten grausame, kriminelle Schweine sein, aber es hatte nachgerade etwas

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