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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Fledermaus- und Vogelkot besudelt. Quan Li weinte leise neben dem kleinen Feuer, dessen Licht auf ihren nichtssagenden Gesichtszügen flackerte – genau wie Florimel und ich hatte sie immer noch den generischen, vage indianischen Frauensim, den sie beim Eintritt in Temilún bekommen hatte. T4b hockte mürrisch und verschlossen auf dem Höhlenboden, wo er in einem fort Steinhaufen aufschichtete und wieder einriß, wie ein Kind, das in der Schule nachsitzen muß. Florimel und William stritten schon wieder, Florimel wie üblich in ärgerlichem Ton, weil sie fand, daß wir uns bei allem, was wir machten, zu passiv verhielten. Ich begab mich ans andere Ende der Höhle, um ihnen nicht weiter zuhören zu müssen.
    Die Aerodromier hatten uns in der Tat in Verdacht, etwas mit dem Verschwinden des Mädchens namens Glänzt-wie-Schnee zu tun zu haben. Sobald der Abend dämmerte, sollten wir einer Art Gottesurteil zur Feststellung unserer Schuld oder Unschuld unterzogen werden. Als Baut-ein-Feuer-auf-Luft uns mitteilte, daß die wenigen, die dieses Gottesurteil überlebten, in der Regel den Verstand verloren, konnte ich eine gewisse Sehnsucht nach dem alten Code Napoleon nicht ganz unterdrücken. Wir fühlten uns elend und unglücklich und verängstigt, jeder einzelne von uns. Wir wußten nicht sicher, ob wir von dem, was uns in diesen Simulationen zustieß, sterben konnten, aber wir hatten bereits erfahren, daß sie imstande waren, uns Schmerzen zu bereiten.
    Als ich meine Aufmerksamkeit auf die anderen richtete, ihre jetzt ganz deutlichen Manifestationen wahrnahm und ihre dumpfe Angst spürte, wurde mir plötzlich klar, daß ich mich vor meiner Verantwortung drückte.
    Von klein auf hatte ich immer die unwiderlegbare Ausrede meiner Blindheit, und manchmal habe ich mich ihrer auch ganz bewußt bedient. Zwar wurde ich wütend, wenn ich nur deswegen einen Auftrag erhielt oder zu einem Fest eingeladen wurde, weil ich blind war, aber ich muß zugeben, daß es auch Fälle gab, in denen das Gegenteil zutraf und ich mir sagte: Ich darf, und meine Blindheit ins Feld führte, um mich von einem Treffen zu entschuldigen oder eine Verabredung platzen zu lassen oder etwas nicht zu tun, was ich nicht tun wollte.
    In ganz ähnlicher Weise, sehe ich jetzt, habe ich meine Probleme vorgeschoben, um meine gegenwärtige Situation nicht wirklich an mich herankommen zu lassen. Ich habe nicht weniger gelitten als meine Gefährten, ja wegen meiner besonderen Lage hatte ich in den ersten Tagen nach dem Eintritt in dieses Netzwerk mit entsetzlichen Qualen zu kämpfen. Aber in den letzten Tagen habe ich nicht so gelitten, und ich verfüge hier über Fähigkeiten, die die anderen nicht einmal annähernd haben, und habe es dennoch vermieden, Führungsaufgaben in dieser Gruppe zu übernehmen.
    Ich hätte mir in der wirklichen Welt niemals Lebens- und Arbeitsbedingungen schaffen können, um die mich die meisten Sehenden beneiden würden, wenn ich mich immer so lammfromm, so kraftlos verhalten hätte. Also warum dann hier?
    Ach, aber ich schweife bereits von den Ereignissen ab, die ich eigentlich berichten möchte. Mit diesem anderen Gedanken werde ich mich ein andermal ausführlicher beschäftigen. Halten wir fest, daß ich beschlossen habe, mich nicht mehr so ziellos treiben zu lassen. Auch wenn ich diesen verängstigten Leuten vielleicht gar nicht helfen kann, möchte ich auf jeden Fall, wenn ich dem Tod ins Auge sehe, nicht denken müssen: ›Ich hätte mehr zu meiner Rettung tun können.‹ Das mag egoistisch sein, aber im Moment geht es mir vor allen Dingen darum, meine Selbstachtung zurückzugewinnen.
    Der Tag unserer Gefangenschaft zog sich hin, und selbst Florimel und William verging schließlich die Lust zu streiten, was sie ohnehin wohl mehr deswegen getan hatten, um sich die Illusion selbstbestimmten Handelns zu bewahren. Ich versuchte mit Quan Li und T4b ins Gespräch zu kommen, aber beide waren zu deprimiert, um viel zu sagen. Besonders Quan Li schien überzeugt zu sein, daß man uns hinrichten würde und daß damit ihre Enkelin ihre einzige kleine Chance verlieren würde. Der Träger des stacheligen Kriegerkostüms war zu gar keiner Äußerung zu bewegen. Er beantwortete meine Fragen mit einem gelegentlichen Knurren, und zuletzt ließ ich ihn einfach weiter seine endlosen Steinhaufen bauen.
    Wir verzehrten gerade unsere Henkersmahlzeit – für jeden ein Häuflein Beeren und ein ungesäuertes Fladenbrot –, als Sweet William sich neben mich

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