Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
doch aus dem sich allmählich Worte herausschälten.
›… Nein …‹, wisperten sie, ›verloren …‹ Andere schluchzten: ›Helft mir …!‹ und klagten: ›Kalt, so kalt, so kalt …‹ – tausend leise weinende Geister, die uns umraunten und umrauschten wie der Wind.
Aber ich allein konnte sie sehen, auf meine Art. Ich allein konnte erkennen, daß sie keine vollständigen Wesen waren, daß sie keine virtuellen Körper hatten wie meine Gefährten, flexible, fest umrissene, sich zielgerichtet bewegende Algorithmengruppen. Was uns umgab, war ein Nebel aus unfertigen Formen, menschenähnlichen Konfigurationen, die sich aus dem Informationsrauschen herauskristallisierten und sich gleich wieder auflösten. Keine Form war in sich abgeschlossen, aber obwohl sie teilhaft und kurzlebig waren, waren sie auch individuell wie Schneeflocken. Sie schienen viel mehr zu sein als bloß ein Programmierkunststück – in seinen Momenten größter Individuation kam mir jedes Phantom unbestreitbar real vor. Es fällt mir schon schwer, zwischen der Lebensechtheit meiner Gefährten und der Lebensechtheit der simulierten Netzwerkbewohner zu unterscheiden, aber diese Phänomene waren noch komplexer. Wenn eine solche Informationsdichte sich mit rein mechanischen Mitteln herstellen läßt, und sei es von einem System mit so magischen Fähigkeiten wie Otherland, dann habe ich reichlich Stoff zum Nachdenken.
Aber mehr als alles andere erfüllten uns diese Phantome mit Entsetzen und Mitleid. Die Stimmen waren die verirrter, unglücklicher Kinder, die darum flehten, gerettet zu werden, oder in albtraumhafter Hilflosigkeit jammerten und weinten, ein Leidens- und Schmerzenschor, der keinen mitfühlenden Menschen kalt lassen konnte. Jeder Nerv in mir, jede Zelle meines realen Körpers verlangte danach, ihnen zu helfen, aber sie waren so wesenlos wie Rauch. Einerlei wie man sich ihr Dasein als Code erklären mag, waren sie doch auch Geister, oder das Wort hat keine Bedeutung.
Plötzlich schrie T4b mit heiserer, überschnappender Stimme auf und klang dabei erwachsener als je zuvor. ›Matti?‹ brüllte er. ›Matti, ich bin’s! Komm zurück!‹ Obwohl er in dem Moment viel blinder als ich war, stürzte er sich wie von Sinnen in die Datenwolke und haschte mit den Fingern nach dem Nichts. Im Nu trieb er einen Seitentunnel hinunter und versuchte, wild um sich schlagend, etwas zu fassen, das nicht da war. Ich allein konnte die Dunkelheit durchdringen und ihn sehen, und ich nahm schleunigst die Verfolgung auf. Ich bekam einen seiner stachelbewehrten Fußknöchel zu fassen und stieß meinerseits einen Schrei aus, als mir die scharfen Spitzen ins Fleisch drangen. Ich rief die anderen zur Hilfe, rief immer wieder, damit sie meiner Stimme folgen konnten, und klammerte mich weiter an ihn, obwohl er sich heftig sträubte.
Bevor die anderen uns erreichten, verpaßte er mir einen wütenden Schlag seitlich an den Kopf, der mich wie ein lichtloser Feuerstoß durchfuhr. Fast ohnmächtig konnte ich nicht erkennen, wer ihn zu fassen bekam und wie. Er wehrte sich gegen sie, gegen alle, und rief nur in einem fort weinend nach jemand namens Matti, als sie ihn in den zentralen offenen Bereich zurückzerrten. Völlig benommen von dem Schlag, den ich abbekommen hatte, kreiselte ich langsam in der Luft wie ein von seinem Raumschiff davontrudelnder Astronaut. Quan Li kam und faßte mich am Ellbogen und zog mich zu den anderen zurück.
Eine Zeitlang verharrten wir einfach dort, während die klagenden Seelen uns wie eine Wolke umhauchten. Schattenfinger berührten unsere Gesichter, Stimmen murmelten knapp unter der Hörschwelle neben unseren Schultern, hinter unserem Rücken, manchmal scheinbar fast in uns drin. Quan Li hörte etwas, das sie anscheinend zum Weinen brachte – ich spürte, wie sie neben mir anfing, zu zucken und vor sich hin zu schluchzen.
›Was sind das für Wesen?‹ fragte Florimel. ›Was geht hier vor?‹ Aber der herrische, schroffe Ton war aus ihrer Stimme gewichen. Sie hatte vor der Verwirrung kapituliert.
Als ich mich wieder einigermaßen erholt hatte, mußte ich an die Bewohner von Aerodromien denken, die Steinzeitmenschen draußen vor der Höhle. Kein Wunder, daß dies ihr Gottesurteil für Leute war, die sie eines Verbrechens verdächtigten, ging es mir durch den Kopf – wenn es uns dermaßen mit Grauen erfüllte, obwohl wir wußten, daß es nicht real war, wieviel furchtbarer mußte es dann für sie sein?
Mir wurde plötzlich
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